Herzfehler und Gefäßveränderung

Das Williams-Beuren-Syndrom

Prof. Dr. med. Armin Wessel

Dieser Artikel ist ursprünglich als Beitrag in den IDHK Nachrichten Nr. 51 erschienenund kann über http://www.idhk.de/schriften.htm gegen Auslagenersatz bestellt werden.

Das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) ist ein genetisch bedingtes Fehlbildungssyndrom, bei dem ein Gendefekt auf dem langen Arm des Chromosoms 7 (7q 11.23) vorliegt. Die auffälligen Zeichen der Erkrankung, der charakteristische Gesichtsausdruck (s. a. das Fotoalbum), die kardiovaskulären Fehlbildungen und die geistige Retardierung wurden bereits Anfang der 60-er Jahre vom neuseeländischen Kardiologen Williams und dem Göttinger Kinderkardiologen Beuren als typische Merkmale eines Syndroms gedeutet, das seitdem Williams-Beuren-Syndrom genannt wird (WBS). Im folgenden soll eine Übersicht über die Art und Häufigkeit der Herzfehler sowie die Besonderheiten des Blutdruckverhaltens bei Patienten mit dem WBS gegeben werden (Abb. 1 u. 3). Dazu wurden die Daten von insgesamt 232 betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einem Alter von ein Monat bis 46 Jahren analysiert.

Aortenstenosen

Beim WBS ist die lichte Weite der Aorta in ihrem gesamtem Verlauf verringert, weil die Aortenwand verdickt ist. Neben der syndromtypischen supravalvulären Aortenstenose können deshalb auch eine lsthmusstenose, umschriebene Verengungen der Bauch- oder Brustaorta sowie eine langstreckige Verschmälerung der Aorta vorkommen.

Stenose bei WBS Herz normal

Abb.1: Schema der Stenosen an Aorta und Pulmonalarterien

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Abb. 2: Schema der supravalvulären Aortenstenose (SVAS) und der Operation nach Doty

Supravalvuläre Aortenstenose (SVAS)

Als SVAS wird eine Einengung der Aorta bezeichnet, die unmittelbar stromabwärts der Aortenklappe gelegen ist (Abb. 1 u. 2). Sie ist für das Syndrom typisch und kommt bei 91 % der Patienten als umschriebene Enge (sanduhrförmige SVAS) oder als tubuläre Stenose mit mehr oder weniger langstreckiger Einengung der aufsteigenden Aorta vor. Klinisch weist ein Herzgeräusch, das auch über den Halsschlagadern zu hören ist, auf eine SVAS hin. Die Enge lässt sich in der Regel echokardiographisch beweisen. Die dopplerechokardiographische Bestimmung des Drucksprungs an einer SVAS, der den Schweregrad der Stenose angibt, ist weniger zuverlässig als bei Aortenklappenstenosen. Es kommt häufig zu Überschätzungen des Schweregrades der SVAS, weil eine asymmetrisch gelegene sanduhrförmige Verengung ein schiefes Strömungsprofil verursacht oder aber weil eine tubuläre Stenose durch die längerstreckige Verengung sowie eine hypoplastische Aorta ascendens per se hohe Strömungsgeschwindigkeiten verursachen können, die in keiner festen Beziehung zum Druckgradienten an supravalvulärer Engstelle stehen. Die verlässliche Bestimmung des Druckgradienten zur Abschätzung des Schweregrades der SVAS bedarf deshalb der invasiven Druckmessung (Herzkatheteruntersuchung). Dies gilt zumindestens für die mittelgradigen und schweren Stenosen mit Blutströmungsgeschwindigkeiten über 4,5–5 m/s (Dopplerechokardiographie). Der natürliche Verlauf des Schweregrades der SVAS zeigt eine uneinheitliche Entwicklung: Sofern der Druckgradient an der SVAS bei Kindern unter 5 Jahren bis zu ca. 20 mm Hg beträgt, nimmt er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – während des Wachstums in der Regel nicht zu. Übersteigt der Gradient an der SVAS im Kleinkindesalter aber bereits 20 mm Hg, so ist bei der Mehrzahl der Kinder mit einer Zunahme der Stenosierung zu rechnen. Daraus ergibt sich: Der Schweregrad supravalvulärer Stenosen, die im Kleinkindesalter leichtgradig sind, bleibt mehrheitlich unverändert; der Schweregrad der SVAS nimmt aber zu, wenn im Kleinkindesalter bereits Stenosen mit Gradienten >20 mm Hg vorliegen. Bei der Mehrzahl dieser Kinder ist die operative Erweiterung der Enge meist unumgänglich. Für die Operation der SVAS stehen verschiedene Techniken zur Verfügung, von denen die Erweiterung der Aorta mit der von Doty eingeführten Technik in der Vergangenheit häufig und mit gutem Erfolg angewendet wurde (Abb. 2). Eigene Nachuntersuchungen über einen Zeitraum von im Mittel 10,8 Jahren bei 15 operierten Patienten zeigten, dass der Druckgradient bei der Mehrzahl der Patienten signifikant und anhaltend gesenkt werden konnte. Sofern aber eine ausgeprägte Verschmächtigung (Hypoplasie) der Aorta ascendens vorliegt, entwickelte sich häufiger eine mittelgradige Restenose am kranialen Ende des eingesetzten Flickens.

Andere Stenosen

Aortenklappenstenosen und Aorteninsuffizienzen (Undichtigkeit der Aortenklappe) kommen beim WBS in 5 % der Fälle vor. Sie sind normalerweise Ieichtgradig, so dass ein Aortenklappenersatz bis zum jungen Erwachsenenalter sehr selten erforderlich wird. Aortenisthmusstenosen kommen bei etwa 6 % der WBS-Patienten vor. Diese sind häufiger hochgradig und erfordern eine frühe Operation. Ein unterbrochener Aortenbogen ist sehr selten. Bei 6 % der Patienten fanden wir bei Katheteruntersuchungen mehr oder weniger umschriebene Einengungen der Brust- oder Bauchaorta. Die Engen waren leichtgradig (Druckgradient < 15 mm Hg), asymptomatisch und wurden in der Regel erst bei sorgfältiger Druckmessung im Rahmen der Herzkatheteruntersuchung diagnostiziert.

Pulmonalstenosen

Beim WBS kommen Pulmonalstenosen unterschiedlicher Form und Lokalisation vor. Sie lassen sich durch Auskultation (Abhören), Echokardiographie und Herzkatheteruntersuchung diagnostizieren. Zur Abschätzung des Schweregrades ist eine Herzkatheteruntersuchung mit Druckmessung im allgemeinen unumgänglich.

Stenosen der Lungenschlagadern (Periphere Pulmonalstenosen)

Periphere Pulmonalstenosen – multiple Verengungen der Pulmonalarterien stromabwärts des Pulmonalarterienhauptstammes – kommen bei ca. 86 % der Patienten mit WBS überall im pulmonalarteriellen Gefäßbaum vor (Abb. 1). Eine Extremform peripherer Pulmonalstenosen stellt die hochgradige Verengung des gesamten Pulmonalarterienbaumes dar; die bei 8 % der Patienten vorkommt. Dabei sind die Pulmonalarterienhauptäste langstreckig eingeengt und die sich anschließenden peripheren Äste weisen ebenfallsein sehr geringes Kaliber mit zahlreichen Stenosen auf. Infolge der zahlreichen mehr oder weniger ausgeprägten Verengungen der Pulmonalarterien nimmt der Widerstand der Lungenstrombahn zu und der Druck in der rechten Herzkammer steigt an. Anhand der Höhe des rechtsventrikulären Spitzendruckes und/oder des Druckgradienten zwischen rechtem Ventrikel und den präkapillären Abschnitten der Pulmonalarterien lässt sich der Schweregrad der Stenosierungen quantifizieren. In den meisten Fällen handelt es sich um mittlere Schweregrade mit Spitzendrücken in der rechten Herzkammer, die etwa halb so hoch sind wie die in der linken Herzkammer. Bei ausgeprägter Hypoplasie (Unterentwicklung) der Pumonalarterien kann der systolische Druck im rechten Ventrikel den des linken Ventrikels auch übersteigen. Während der Wachstumsperiode nimmt der Schweregrad peripherer Pulmonalstenosen und Hypoplasien im allgemeinen ab. Die Prognose peripherer Pulmonstenosen beim WBS ist deshalb günstig zu stellen, denn bei Jugendlichen und Erwachsenen kommen schwere Stenosen nur noch ausnahmsweise vor. Die günstige Prognose gilt ebenfalls für die schweren Hypoplasien der Pulmonalarterien, die sich während des Wachstums nahezu komplett zurückbilden können. In Anbetracht der günstigen Entwicklung pulmonalarterieller Verengungen können Operationen oder interventionelle Kathetermaßnahmen in der Regel zugunsten des natürlichen Verlaufes zurückgestellt werden.

Andere Stenosen

Sehr viel seltener als periphere Pulmonalstenosen kommen Pulmonalklappenstenosen mit einer Häufigkeit von 3 % und/oder stromabwärts der Pulmonalklappe gelegene Stenosen (supravalvuläre Pulmonalstenosen) bei 8 % der Patienten vor.

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Abb. 3: Häufigkeit von Herzfehlern beim Williams-Beuren-Syndromn ach echo- und angiokardiographischen Befunden

Andere Herzfehler

Herzfehler im engeren Sinn kommen beim WBS seltener vor als Stenosen der herznahen Arterien. Bei den 232 Patienten, die alle mindesten einmal echokardiographisch und/oder mit Herzkatheter untersucht worden waren, war der häufigste Herzfehler eine Mitralinsuffizienz (Schlussunfähigkeit der linken Herzklappe). Sie kam bei 18 % der Patienten vor, war häufig durch eine Asymmetrie der Papillarmuskeln bedingt und nur selten auf einen Mitralklappenprolaps zurückzuführen. Die lnsuffizienz war stets leichtgradig, asymptomatisch und oft nur farbdopplerechokardiographisch erkennbar. Ein Zusammenhang mit dem Schweregrad der SVAS war ebenso wenig auszumachen wie Hinweise auf eine Zunahme des Schweregrades der Mitralinsuffizienz. Vorhofseptum- und Ventrikelseptumdefekte kamen bei 2 % bzw. 3 % der 232 Patienten vor. In Einzelfällen wurden auch komplexe Herzfehler wie beispielsweise eine Fallot'sche Tetralogie diagnostiziert. Die Häufigkeit der wichtigsten kardiovaskulären Fehlbildungen bei 232 Patienten mit WBS ist in Abbildung 3 dargestellt.

Arterienanomalien

Frühe Publikationen von Beuren und später auch von anderen Autoren zeigen, dass die pathologischen Veränderungen der Arterien nicht nur auf die Pulmonalarterien und die Aorta beschränkt bleiben, sondern dass auch die Kopf- und Armarterien (supraaortale Arterien) davon betroffen sind, die den Kopf und die Arme versorgen. Durch angiographische Befunde bei einzelnen Patienten, bei denen Stenosen der supraaortalen Arterien, der Leber- und Darmarterien, der Nierenarterien sowie der Koronararterienangiographisch nachgewiesen wurden, lässt sich bestätigen, dass es sich beim WBS um eine allgemeine Erkrankung der Arterien handelt, die in Kenntnis des Gendefektes treffend als ,,Elastin-Arteriopathie" bezeichnet worden ist. Im folgenden sollen die Befunde der klinisch bedeutsamsten Anomalien an den Koronar- und Nierenarterien dargestellt werden. Dabei werden nur Befunde berücksichtigt, die auf Angiographien basieren, weil die Angiographie als Referenzmethode zur Diagnostik von Verengungen kleinerer Gefäße gilt.

Anomalien der Koronararterien

Die Befunde der Herzkatheteruntersuchungen von 64 Patienten mit WBS wurden im Hinblick auf Anomalien der Koronararterien untersucht. Bei insgesamt 17 % dieser Patienten wurden pathologische Befunde erhoben (11 von 64 Patienten). Es handelte sich dabei überwiegend um leichte Stenosen und kleine Aneurysmen (Erweiterungen) im Bereich der linken Koronararterie und ihrer Hauptäste. Anomalien der rechten Koronararterie waren selten. Die linken Koronararterienhauptäste waren umso stärker erweitert, je hochgradiger die SVAS war. Daneben fand sich bei 25 % der 64 Patienten ein abnormer Ursprung der linken Koronararterie in unmittelbarer Nähe der supravalvulären Aortenstenose. Es gibt Vermutungen, dass bei dieser Anomalie Stenosen des Anfangsteiles der Koronararterien zu plötzlichen Todesfällen geführt haben könnten. Anhand unserer Daten kann dies nicht bestätigt werden. Obwohl diese Ursprungsanomalie bei 16 der 64 Patienten diagnostiziert wurde (25 %), sind bei unseren 232 Patienten nur 4 plötzliche ungeklärte Todesfälle binnen 34 Jahren dokumentiert worden (1,7 % in 34 Jahren). Die klinische Bedeutung der Koronararterienanomalien ist deshalb zur Zeit noch nicht abschließend zu bewerten.

Stenosen der Nierenarterien

Systematische Untersuchungen über die Häufigkeit von Nierenarterienveränderungen sind bisher nicht durchgeführt worden. Wir haben bei 18 Patienten die Nierenarterien im Rahmen von Herzkathederuntersuchungen angiographisch dargestellt. Bei 8 von ihnen (entsprechend 44 %) fanden sich leichte Stenosen im Anfangsbereich der rechten oder linken Nierenarterie. In Anbetracht der geringen Patientenzahl sollte aber diese Häufigkeitsangabe mit Zurückhaltung bewertet werden.

Bluthochdruck

Gelegenheitsblutdruckmessungen am linken Oberarm bei 142 Patienten im Alter von 1,1 bis 23,8 Jahre ergaben, dass der systolische Blutdruck bei 46,5 % von ihnen oberhalb der 95-er Perzentile lag. Der diastolische Blutdruck lag bei 36,6 % dieses Kollektives oberhalb der 95-er Perzentile gleichaltriger Gesunder. Diese Häufigkeit des Bluthochdrucks wurde durch Langzeitblutdruckmessungen bei 45 Patienten bestätigt. Dabei wurde ein Bluthochdruck dann diagnostiziert, wenn der mittlere arterielle Blutdruck zur Tageszeit im Mittel mehr als 2 Standardabweichungen oberhalb des Mittelwertes gesunder Menschen lag. Bei Anwendung dieses Kriteriums lag bei 42,2 % der 45 Patienten ein Bluthochdruck vor. Bei ca. 40 % der Patienten aller Altersgruppen mit WBS liegt also eine krankhafte Blutdruckerhöhung vor, deren Häufigkeit damit 4–8 mal höher ist als in der gesunden Bevölkerung. Dabei haben eingehende Untersuchungen ergeben, dass der Bluthochdruck nur zu einem kleinen Teil auf Nierenfehlbildungen zurückgeführt werden kann. Es ist eher naheliegend, dass die Gesamtheit der Stenosen kleinerer Arterien zu einer Blutdrucksteigerung beitragen kann. Außerdem findet man in der Wand der großen Arterien abnorme elastische Elemente. Infolge dessen ist die Aorta bei WBS-Patienten steifer als bei Gesunden, so dass die Blutdruckamplitude (Unterschied zwischen systolischem und diastolischem Blutdruck) vergrößert ist.Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass ein erhöhter Sympathikotonus (verstärkte Aktivität des unwillkürlichen Nervensystems) ebenfalls zur Blutdrucksteigerung beitragen könnte. Somit ist es wahrscheinlich, dass für Entstehung des Bluthochdrucks beim WBS sowohl die syndromspezifischen Arterienveränderungen als auch ein gesteigerter Sympathikotonus verantwortlich sind. In Anbetracht dieser Genese ist die Gabe von Betablockern zur Blutdrucksenkung beim WBS, die sich in der klinischen Praxis bewährt hat, begründbar und sinnvoll.

Soziale Aspekte und Selbsthilfe

Neben den kardiovaskulären Befunden stellen die geistige Behinderung, die in der Regel leicht bis mäßig ausfällt, sowie die motorische Entwicklungsverzögerung bedeutsame Benachteiligungen für die Patienten und ihre Eltern dar. Deshalb ist im Säuglings- und Kleinkindesalter eine intensive Förderung durch Krankengymnastik, Logopädie, Ergo- und Hippotherapie außerordentlich wichtig. Im Vorschulalter ist der Besuch eines integrativen Kindergartens oft förderlich. Im Schulalter hat die richtige Beschulung, bei den meisten Kindern in der Sonderschule ,,G", entscheidenden Einfluss auf das Wohlbefinden und die individuelle Entwicklung. Die Bemühungen der Eltern und der Ärzte, speziell der Kinderkardiologen, werden auf dem sozialen Sektor wirkungsvoll unterstützt vom Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom e. V.

Prof. Dr. med. Armin Wessel
(verstorben)
Klinik für Pädiatrische Kardiologie der
Georg-August-Universität Göttingen
Robert- Koch-Str. 40 D
37075 Göttingen
Telefon +49 551 396204
Fax +49 551 7392561

Januar 2000

Danksagung

Die hier dargestellten Untersuchungen wurden mit Unterstützung des „Bundesverbandes Williams-Beuren Syndrom e. V." an der Klinik für Pädiatrische Kardiologie der Georg-August-Universität Göttingen und der Kinderklinik des St. Bernward-Krankenhauses Hildesheim (Chefarzt PD Dr. Rainer Pankau) durchgeführt.

Die Interessengemeinschaft Das herzkranke Kind e. V. hat freundlicherweise dieser Form der Veröffentlichung zugestimmt.

Herr Prof. Armin Wessel war von 1993 bis zu seinem frühen Tod 2011 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes Williams-Beuren-Syndrom. Zusammen mit Frau Prof. Gosch, Herrn Prof. Pankau, Herrn Prof. Partsch und Herrn Prof. Sarimski war er maßgeblich an der Erstellung der Leitlinien zum Williams-Beuren-Syndrom beteiligt. Wir werden ihn in guter Erinnerung behalten. Seine Arbeiten haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

Verfasser: Prof. Dr. Armin Wessel     Zuletzt aktualisiert: März 2018