Heidelberger Musikalitäts-Studie

Martina Wengenroth, Peter Schneider, Stine Kirsch, Jan Benner, Elke Hofmann

Williams-Beuren-Syndrom liefert wertvolle Hinweise für genetische Grundlage von Musikalität

(Martina Wengenroth, Maria Blatow, Peter Schneider)

Erste Eindrücke bei WBS-Musikworkshops
„Kannst Du ein Flugzeug nachmachen?", „Weißt Du, wie ein Traktor knattert?" – mit solchen oder ähnlichen Fragen wurde unser Team herzlich von den Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom (WBS) begrüßt, die wir auf WBS-Musikworkshops besuchten, um einen Test zur Klangwahrnehmung für unsere Studie zur Musikalität bei WBS durchzuführen. Bemüht uns den „Anforderungen" zu stellen, versuchten wir anfahrende Autos, Flugzeugmotoren, Martinshörner und ähnliches zu imitieren. Vergnügt stimmten die Kinder mit ein, verteilten neue Nachahm-Aufgaben und verblüfften uns mit ihrer detailgetreuen und authentischen Wiedergabe auch ausgefallener Geräusche. Schnell vergrößerte sich die brummende und quiekende Schar der Kinder, und mit dem Einverständnis der Eltern wollten alle Kinder bei unserem „Hörspiel" mitmachen.

Außergewöhnliche Sensibilität für Klänge bei Menschen mit WBS
Menschen mit WBS haben einen angeborenen genetischen Defekt auf einem Abschnitt vom Chromosom 7. Zu ihren Besonderheiten zählt eine bereits in den ersten Lebensjahren ausgeprägte starke Sensibilität für unterschiedliche Geräusche und Klänge. Zunächst kann sich diese „auditorische Hypersensibilität" in Form von Angst vor bestimmten Geräuschen zeigen, v. a. vor brummenden Maschinengeräuschen (z. B. Staubsauger, Rasenmäher, Haartrockner) und vor lauten, schrillen Geräuschen wie Sirenen, Bohrmaschinen etc. In der Regel verringert sich die „Angstkomponente" der Geräuschempfindlichkeit mit dem Eintreten ins Schulalter, stattdessen bleiben eine hohe Sensibilität, ein Interesse und zum Teil auch eine große Vorliebe für bestimmte Geräusche bestehen. Es kommt sogar vor, dass gerade das Staubsaugen zu einer Lieblingsbeschäftigung wird, oder dass z. B. Kehrmaschinen und Martinshörner eine große Faszination ausüben.

„Hier spielt die Musik!" – WBS und Musikalität
Der schwer definierbare Begriff „Musikalität" umfasst zum Einen die erbliche Veranlagung („musikalische Begabung, Talent") und zum Anderen auch eine Trainingskomponente, ferner auch feinmotorisches Geschick, Konzentrationsvermögen und Verständnis für musikalische Interpretation.

Man kann nun darüber streiten, ob Menschen mit WBS im klassischen Sinne „musikalisch" sind: Mit den üblicherweise für Musikstudenten und Profimusiker ausgelegten Standardtests lässt sich die Musikalität bei WBS-Betroffenen nur schwer messen, da hier Notenkenntnisse und eine lange Aufmerksamkeitsspanne vorausgesetzt werden.

Doch eines ist unumstritten: Kinder und Erwachsene mit WBS haben eine ganz besondere Affinität zur Musik! Insbesondere stark rhythmusbetonte Musikrichtungen wie Schlager, Volksmusik, Country und Rock begeistern große und auch schon ganz kleine Menschen mit WBS. Aufgrund dieses natürlichen Interesses an Musik fangen WBS-Kinder oft schon im Kindergartenalter an ein Instrument zu erlernen; besonders beliebt sind Klavier, Keyboard und Schlagzeug. Sie stimmen sofort mit ein, wenn gesungen wird, kennen viele Lieder auswendig (häufig in mehreren Sprachen), trommeln gern und bleiben wie gebannt stehen, wenn eine Musikkapelle durch die Stadt marschiert. Auch wenn das Erlernen eines Musikinstrumentes aufgrund von motorischen und kognitiven Defiziten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann, spielt Musik für Menschen mit WBS eine ganz zentrale Rolle. Oft werden neue musikalische Ausdrucksformen gefunden, bereits Gehörtes wird komplett ohne Noten nachgespielt, und wenn die Begeisterung vollends überhand nimmt, wird zur Musik getanzt, dass der Boden wackelt (dies wird sehr schön in dem Buch von Oliver Sacks „Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn" beschrieben). In den USA haben sich mittlerweile Sommercamps und spezielle Universitäten etabliert, an denen Jugendliche und junge Erwachse mit WBS mit ihren besonderen Bedürfnissen (vertrautes und fürsorgliches Umfeld, keine Notenkenntnisse erforderlich) Musik studieren können.

„Ich höre was, was Du nicht hörst"– Individuelle Klangwahrnehmung
Jeder Mensch hört anders und weist ein eigenes Hörprofil auf. Der Kirchenmusiker, Physiker und Hirnforscher Dr. Peter Schneider beschäftigt sich an der Universität Heidelberg seit vielenJahren mit dem „musikalischen Gehirn" und entwickelte einen Test zur individuellen Klangwahrnehmung.

Jeder musikalische Ton ist aus physikalischer Sicht ein Klanggemisch, bestehend aus einem Grundton und einem breiten Spektrum verschiedener Obertöne. Manche Menschen nehmen einen Ton eher als Ganzes wahr und fokussieren vor allem auf dessen Grundton („holistische Hörer"), während andere fast ausschließlich die einzelnen Obertöne hören („spektrale Hörer"). Beide Hörweisen treten individuell unterschiedlich stark ausgeprägt auf und können auch in verschiedenen Tonhöhenbereichen differieren. Der „Test zur holistischenund spektralen Klangwahrnehmung" erstellt individuell ein graduelles Profil der Hörweisen in verschiedenen Tonhöhenbereichen.

In Abhängigkeit davon, wie man Töne und Klänge wahrnimmt, werden unterschiedliche Instrumente und Musikrichtungen bevorzugt. Holistische Hörer lieben schnelle, kurze Impulse, virtuoses Spiel und präzise Rhythmen und Instrumente wie Schlagzeug, Klavier und hohe Soloinstrumente (z. B. Trompete). Spektralen Hörern dagegen gefallen lange, getragene Melodien, differenzierte Klangfarben und der Klang von Streich- sowie Blech- oder Holzblasinstrumenten in tieferen Lagen sowie Orgel und Gesang.

Im Rahmen einer Online-Umfrage der Zeitschrift „Audio" nahmen über 5.700 Menschen an einer Kurzfassung des Tests zur holistischen und spektralen Klangwahrnehmung teil und gaben dabei ihre Hörgewohnheiten und Musikpräferenzen an. Es stellte sich heraus, dass so gut wie alle Jazz-Fans und ein großer Teil der Opernliebhaber sehr stark spektrale Hörer waren, während beispielsweise die „Hardrocker" und Techno-Fans sehr holistisch hörten.

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Neurobiologische Grundlagen des individuellen Hörprofils
Nach Analyse der anatomischen Besonderheiten der Gehirne von über 500 Profimusikern konnte Dr. Schneider feststellen, dass deren Gehirne im Vergleich zu denen von Nichtmusikern eine deutlich größere Hörrinde, häufig mit mehrfachen sog. „Heschl'schen Querwindungen" aufweisen (in Abbildung 1 rot (rechts) und blau (links) hervorgehoben). In diesen beidseitig oberhalb der Ohren gelegenen Hirnarealen werden Impulse von den Hörnerven aufgenommen und weiterverarbeitet; für die Verarbeitung von akustischen Reizen sind sie also von entscheidender Bedeutung.

Ausserdem haben spektrale Hörer im Seitenvergleich eine größere rechte Hörrinde und bevorzugen deshalb wohl schon von „Kindesohren" an obertonreiche Instrumente wie Saxophon, Orgel und Violoncello. Menschen mit starker Linksasymmetrie hingegen, also mit einer größeren linken Hörrinde, favorisieren Instrumente, die ein präzises „timing" erlauben, wie beispielsweise Schlagzeug, und/oder einen deutlichen Grundton produzieren, wie z. B. Trompete oder Klavier.

Abbildung 1. Die dreidimensionale Rekonstruktion der rechten (rot) und linken (blau) Hörrinde von einem MRT-Bild des Kopfes zeigt deutliche individuelle Unterschiede, die die musikalische Begabung und das Hörprofil widerspiegeln. Auf den vier exemplarischen Hörrinden wird erkennbar, dass der seitliche Bereich der sog. „Heschl'schen Querwindungen" (weiss markiert) bei holistischen Hörern im Seitenvergleich links, bei spektralen Hörern rechts größer ist.

Insgesamt ist bei Musikern die Hörrinde deutlich voluminöser und oft finden sich sogar mehrfache Heschl'sche Querwindungen (beispielsweise hat der holistisch hörende Profimusiker im oben abgebildeten Beispiel drei linke Heschl'sche Querwindungen, der spektrale hörende Musiker hat zwei rechte Heschl'sche Querwindungen).

Bisher ist es in der Neurowissenschaft umstritten, ob die Besonderheiten in den Gehirnen von Musikern dem intensiven Training zuzuschreiben sind (im Sinne von „das Hirn wie einen Muskel trainieren") , oder ob sie bereits angeboren sind.

Im Rahmen dieser „nature versus nurture"-Debatte (das engl. Wortspiel heißt so viel wie „Veranlagung oder Umwelt") ist es deshalb besonders spannend, Menschen mit besonderer Begabung und möglichst wenig musikalischem Training zu untersuchen, um festzustellen, ob sie Übereinstimmungen im Erbgut haben, die Rückschlüsse auf die Grundlage von Musikalität erlauben.

Die große Begeisterung für Musik, die wir für einen wichtigen Bestandteil der musikalischen Begabung halten, das gleichzeitig geringe Training im klassischen Sinne und die spezielle genetische Gemeinsamkeit machen Menschen mit WBS somit aus neurobiologischer Sichtweise zu „idealen Studienkandidaten". Daher hat unser Team die individuelle Klangwahrnehmung bei Kindern und jungen Erwachsenen mit WBS und die zugrunde liegenden neurobiologischen Besonderheiten untersucht.

Holistische Klangwahrnehmung bei WBS-Personen
In dem Test zur Klangwahrnehmung nahmen die 27 von insgesamt 29 Studienteilnehmern mit WBS besonders stark die Grundtöne wahr, sie sind also als „extrem holistischeHörer" einzustufen. Lediglich zwei Probanden mit WBS hörten leicht spektral und bevorzugten auch für WBS „untypische" (da obertonreiche) Instrumente wie beispielsweise Dudelsack.

Diese nahezu homogene, stark holistische Klangwahrnehmung in der WBS-Gruppe weicht deutlich von der Durchschnittsverteilung ab: Die 75 Kontrollpersonen, die hinsichtlich Alter, Geschlecht und musikalischem Training mit der WBS-Gruppe vergleichbar waren, zeigten eine gleichmäßige Verteilung von holistischer und spektraler Hörweise mit nur sehr wenigen „Extrem-Hörern".

Hörrinde bei WBS-Personen so groß wie bei Profimusikern
Eine Untersuchung mit der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT), mit der kleinste Strukturen im Gehirnerkennbar werden, zeigte, dass die Hörrinde von WBS-Personen deutlich grösser ist als die von gleichaltrigen und hinsichtlich des musikalischen Trainings vergleichbaren Kontrollpersonen. In der Aufsicht wird erkennbar, dass die Heschl'schen Querwindungen oft beidseitig sogar mehrfach angelegt sind (Abbildung 2).

Eine weitere Auffälligkeit der Gehirnanatomie der WBS-Personen war eine im Seitenvergleich deutlich größere linke Hörrinde. Diese Beobachtung passt zu der nahezu homogenen holistischen Hörwahrnehmung der WBS-Gruppe mit Fokussierung auf Grundton und zeitliche Auflösung; dies sind auditorische Elemente, die vor allem in der linken Hörrinde verarbeitet werden.

Insgesamt war das Gesamt-Hirnvolumen der WBS-Personen um 24 % geringer als bei den Kontrollpersonen (dies ist aus der Literatur bekannt und liegt vor allem an einer Verringerung der weißen Hirnsubstanz im Scheitellappen). Umso erstaunlicher ist es, dass die linke Hörrinde der WBS-Personen im absoluten Vergleich trotzdem 1,6 mal so gross war wie die der Kontrollpersonen. Um eine vollends objektive Vergleichsmöglichkeit zu erhalten, wurden die Daten aller untersuchten Gehirne auf die gleiche Grösse umgerechnet („normalisiert"). In dieser Betrachtungsweise war die linke Hörrinde der WBS-Personen im Verhältnis zu den Kontrollpersonen sogar 2,2-fach und die rechte 1,2-fach größer. Dies sind Werte, die bisher nur von Profimusikern bekannt waren!

Dieser ausgeprägte Größenunterschied der Hörrinde bei den WBS-Personen ist ein Indiz dafür, dass die Größe und Form der Hörrinde nicht Resultat langjährigen Trainings ist, sondern vielmehr der musikalischen Veranlagung zugrunde liegt und eventuell genetisch mitbestimmt wird.

Abbildung 2. Im Vergleich zu den Kontrollpersonen (control) zeigen die 11 WBS-Testpersonen deutlich vergrößerte Hörrinden mit mehrfach angelegten Heschl'schen Querwindungen (siehe rote und blaue Bereiche).

Eine Untersuchung der funktionellen Besonderheiten der WBS-Gruppe beim Verarbeiten von Tönen bestärkte noch die Ergebnisse der Untersuchungen von Klangwahrnehmung und anatomischen Besonderheiten. Hierfür wurde die Magnetenzephalographie (MEG) verwendet. Bei dieser Methode sitzt man unter einer Art „Friseurhaube" und hört sich passiv verschiedene Töne an (siehe Fotos). Hierbei können minimale Veränderungen der Hirnströme gemessen werden, die durch das Verarbeiten der Töne in der Hörrinde hervorgerufen werden. Die WBS-Gruppe zeigte insgesamt deutlich stärkere Signale in der Hörrinde als die Kontrollgruppe, vergleichbar mit den Signalen von Musikern. Ausserdem war auch hier zu beobachten, dass die Signale der linken Hörrinde der WBS-Personen deutlich stärker waren als die der rechten, was wieder durch die holistische Klangwahrnehmung der WBS-Gruppe und die zugehörige Linksasymmetrie der Hörrinde zu erklären ist.

Abbildung 3. Impressionen von den Messungen. Alle Versuchsteilnehmer und auch wir hatten eine Menge Spaß! Die beliebteste Pausenbeschäftigung war die legendäre „Apfel-Schäl-Maschine".

Auch die Eltern kamen nicht ganz „ungeschoren" davon und mußten vollen Einsatz zeigen...

Literatur

– Wengenroth M, Blatow M, Bendszus M, Schneider P. Leftward Lateralization of Auditory Cortex Underlies Holistic Sound Perception in Williams Syndrome. PLoS ONE (2010). http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0012326

– Schneider P & Wengenroth M. The Neural Basis of Individual Holistic and Spectral Sound Perception. Contemporary Music Review (2009)

– Schneider P, Bleeck S, Rupp A. Structural, functional and perceptual differencesin Heschl's gyrus and musical instrument preference. Annals of the New YorkAcademy of Science (2005)

– Schneider P, Sluming V, Roberts N, Scherg M, Goebel R, Specht H, Dosch G,Bleeck S, Stippich C, Rupp A. Structural and functional asymmetry of lateral Heschl's gyrus reflects pitch perception preference. Nature Neuroscience (2005)

– Tantschinez C. Audio (2006). Stuttgart: Motor Press

– Schneider P, Scherg M, Dosch G, Specht H, Gutschalk A, Rupp A. Morphology of Heschl's gyrus reflects enhanced activation in the auditory cortex of musicians. Nature Neuroscience (2002)

Danksagung

Wir möchten uns ganz herzlich bei allen WBS-Kindern, deren Geschwistern und besonders auch den Eltern fürs engagierte Mitmachen bedanken! Es hat uns sehr viel Spaß gemacht und wir hoffen auf wieder so rege Teilnahme bei unserer nächsten Studie.

Ganz besonderer Dank gebührt auch dem Bundesverband für WBS, der uns ausgezeichnet unterstützt hat!

 

Verfasser: Wengenroth, Schneider, Kirsch, Benner, Hofmann     Zuletzt aktualisiert: März 2018