Hannes

Der Bericht einer Mutter, deren Kind WBS hat (aus unserer Umschau 24/98 Leben mit Hannes)

Da geht Er nun und steigt – irgendwie selbstbewußt mit seinem von Ihm gepackten Rucksack – in das Auto von Oma und Opa ein. Hannes inzwischen sieben Jahre alt, fährt zu Oma und Opa, um mit dem Zug nach Magdeburg und von dort weiter mit dem Zug nach Hannover zu reisen. Er ist gerne bei Oma und Opa und der anderen Oma. Seine Frage „Darf ich mitkommen?" lassen die Großeltern häufig erweichen. Hannes gehen zu lassen ist ganz wichtig. Ich habe es mir auch vorgenommen. Seine Welt soll und darf nicht nur aus Mutter und Vater bestehen.

Dabei hat es bei Ihm lange gedauert, in uns Mutter und Vater zu erkennen. Ich habe Hannes als Säugling nie lachen sehen, erst mit siebeneinhalb Monaten, als ich ihn kräftig kitzelte. Jeder Blickkontakt fehlte. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter, nachdem Hannes ein Wochenende bei Ihr verlebt hatte, Ihn bei meinem Kommen unmittelbar vor dem Fenster auf den Tisch stellte, damit Er mich begrüßen konnte. Aber auch mit einem Jahr fehlte bei meinem Sohn jegliche Reaktion. Ja manchmal waren seine Reaktionen schon enttäuschend, fast entmutigend. So zum Beispiel als wir mit Ihm im Juni (damals war Hannes zweieinhalb Jahre) zur Bestätigung der Diagnose Williams-Beuren-Syndrom in Kiel bei Dr. Rainer Pankau waren. Während eines Spazierganges am Kieler Hafen wurde uns bewußt, als ein Hund auf seinen Namen reagierte, daß Hannes dazu nicht in der Lage ist. Damals konnte er noch nicht laufen, obwohl Er die ersten Schritte bereits zu Ostern getan hatte. Laufen gelernt hat Hannes auf der Rückreise von unserem Schweden Urlaub auf der Ostseefähre. Das gleichmäßige Geräusch und die Schiffsbewegungen müssen Ihn wohl dazu motiviert haben. Ich habe den Eindruck, daß Urlaubsreisen bei WBS Kindern Entwicklungsschübe hervorrufen. Hannes reist gerne. Seine erste Urlaubsreise trat er als Eineinhalbjähriger an. Im Auto sorgfältig verpackt war Omas eingekochte Möhrensuppe. Sie war neben Banane, Schmelzflocken und Joghurt so ziemlich das einzige, was er gegessen hat. Gespielt hat Hannes zu diesem Zeitpunkt mit Ketten, Bändern und einer Glocke. Seine Spielkiste hat er aus- und eingeräumt. Seit knapp zwei Jahren ist es die Eisenbahn, die ihn fasziniert. Die Duplo-Schienen von Lego werden von ihm immer wieder neu zusammengesteckt, die Züge zusammengebaut. Einmal in der Woche haben wir mehrmals den Stendaler Bahnhof besucht. Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, wie man dort bis zu zwei Stunden verweilen kann. Kataloge, besonders die von Heimwerkermärkten, interessieren Hannes sehr. Er hörte gerne Kassetten – Benjamin Blümchen ist hier der Favorit. Auf Opas Keyboard kann er stundenlang spielen. Wenn man ihn beobachtet, kann man sich einfach nicht vorstellen, daß er behindert ist.

Hannes kann Musik recht gut zuordnen. Nach den ersten Takten oder Tönen weiß er, daß jetzt Phil Collins, Queen, Sting oder Joe Cocker ihre Lieder singen. In Erstaunen hat Hannes vor drei Jahren in einem Café eine Verkäuferin versetzt, als er die Gruppe „Prinzen" als Sänger im Radio erkannt hat. Zu diesem Zeitpunkt sah er wie ein Zweijähriger höchstens wie ein dreijähriges Kind aus. „Mama, leg mal wieder City auf!" kam vor wenigen Wochen aus seinem Mund. Ich weiß gar nicht mehr, wann er diese CD zum letzten Mal gehört hat. Vor Zwei Jahren? Hannes kommt mir in seinem Fähigkeiten oftmals wechselhaft und unterschiedlich vor. Früher dachte ich, daß seine Entwicklung einer Berg-Talbahn gleicht. Noch heute kann ich feststellen, daß – obwohl er die vier Grundfarben kennt – er die Farben zwei Tage später wieder durcheinander bringt. Manchmal kann er auf Fragen gut reagieren, am anderen Tag ist er dazu jedoch nicht mehr in der Lage, oder er will nicht. Die Motivation spielt immer eine Rolle, Fragen und Antworten sind zum Teil eingeübte Muster. Seine Fragen erstaunen mich manchmal: „Mama darf ich?", „Mama kann ich ?", „Was ist das?". Gleiches gilt ebenfalls für seine Satzbildung, wenn man bedenkt, daß Hannes erst mit drei Jahren erste Wörter sprach. Mein Mann und ich haben viel Wert auf körperliche Betätigung gelegt. Da Hannes fast hyperaktiv war, erschien es uns wichtig. Er springt gerne auf dem Trampolin, liebt das Baden, rollert viele Kilometer. Wir drei lieben Ausflüge mit dem Tandem, das bereits in der UMSCHAU beschriebene Fahrrad können wir sogar mit dem Auto transportieren. Hannes schneidet gerne, hilft beim Kochen und Backen. Das Nachahmen von Tierlauten bereitet ihm noch immer Freude. Davon konnte sich im Sommer auch ein Bekannter unserer Familie überzeugen. Dieser wollte Hannes die erste Schwimmstunde geben. Auf die Forderung, es wie ein Frosch zu machen (gemeint war natürlich die Beinbewegung), erfolgte mit Begeisterung ein kräftiges „Quak Quak." Hannes macht es auch Spaß, Gegenstände, Personen oder Tiere zu ergänzen. Zum Beispiel: In Afrika leben... „Lö-wen" (die Silben ergänzen wir gegenseitig beziehungsweise gemeinsam, meistens eingebettet in einem Satz). Tätigkeiten, wie Puzzeln, werden von Hannes nur mit Drängen und Anleitung ausgeübt. Der Umgang mit einem Stift gleicht immer noch dem eines Kleinstkindes, Monatelang habe ich versucht, mit ihm Türme aus Bauklötzen zu bauen. Das Erkennen von Farben haben wir zwei Jahre lang geübt. Jetzt hat es bei Hannes endlich „Klick" gemacht.

In Situationen dieser Art müssen wir uns an unseren Erziehungsgrundsatz erinnern. Hannes soll ein glückliches Kind werden und sein. Irgendwie haben wir uns immer bemüht, dafür das richtige Maß zu finden. Einige Bockphasen hatten wir auch zu überstehen. Es fiel uns früher wirklich schwer, richtig einschätzen, was Hannes verstehen kann und nicht (ein Arzt bezweifelte sogar, daß ich als Mutter mit Hannes klarkomme). Heute können wir es und wissen auch, daß er eine Menge Feingefühl hat. Freunde und Bekannte meinen, daß wir mit Hannes zu streng umgehen. Hannes würde ihnen gerne zustimmen, denn er mag es überhaupt nicht, wenn wir mit ihm böse sind. Der Umgang mit meinem Sohn fiel mir leichter, seit die Diagnose feststand und ich sie auch akzeptiere. Das Wissen um die Eigenheiten des WBS erleichterte mir die Erziehung. Vieles habe ich lernen müssen. Für die Erkenntnis, mit der Behinderung meines Kindes leben zu können, benötiget ich mindestens zwei Jahre. Heute kann ich sagen, daß ich nicht weniger glücklich als andere Mütter bin. Es ist nur anders. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, half mir die Arbeit, in ihr fand ich Bestätigung. Die Zeit, die ich mit Hannes verbringen konnte, habe ich intensiv genutzt. Auch habe ich Hannes nie versteckt, habe Mitmenschen die Situation erklärt und bin dabei auf Verständnis gestoßen. Woher können sie auch wissen, wie sie reagieren sollen? Ich als Betroffene habe heute noch ein komisches Gefühl, wenn ich eine Gruppe mit Behinderten sehe. Wie kann ich davon meinen Mitmenschen anderes erwarten? Als Hannes 18 Monate jung war, wurde er in einen Kindergarten aufgenommen, anfangs nur stundenweise. Vom Gefühl her wählten wir dabei den intregativen Weg. Seit September vergangenen Jahres ist Hannes Schüler einer G-Schule. Seine aus fünf Schülern bestehende Klasse kooperiert mit einer Grundschulklasse. Diese 20 Kinder werden im Sport und in der Musik gemeinsam unterrichtet. Zusammen werden auch Wandertage durchgeführt und Schulfeste gefeiert. Ob diese Kooperation in den nächsten Schuljahren aber weiterhin realisiert werden kann, ist noch nicht völlig geklärt. Hannes findet auch keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Kinder haben ja sehr feine Antennen und merken genau, daß Hannes anders ist. Seine Kommunikationsversuche sind äußerst begrenzt und eingeschränkt. Welches Mädchen oder welcher Junge – im Gegensatz zu Erwachsenen – reagiert schon auf sein Pfeifen oder „Hallo,Kinder!"? Dieses wurde mir ganz bewußt im Frühherbst vergangenen Jahres in der folgenden Situation (wir wohnten damals erst drei Monate im neuen Ort): Hannes sprang auf seinem Trampolin und wollte gerne, daß die Nachbarskinder mit ihm hopsen. Ich ermunterte ihn, sie zu fragen. Sofort rannte er los und lud die Kinder ein, wobei die anwesenden Väter als Übersetzer fungierten, denn die Kinder zeigten sich doch etwas verunsichert. Hannes war glücklich bis zu dem Zeitpunkt, als die kleinen Gäste gehen wollten oder mussten. Bitterliche Tränen waren die Folge und Sätze wie „Die Mädchen sollen kommen!" Hannes tat mir leid. Hier können wir ihm nicht helfen, er wird in dieser Angelegenheit noch manchen Mißerfolg haben. Die Worte des Schulrats kamen mir dabei wieder in Erinnerung: „Hannes wird die meiste Zeit seines Lebens mit Behinderten zusammen sein!" Die eine Woche später gezeigte Freude über die Begegnung mit Johanna, einem Down-Syndrom-Kind aus dem Kindergarten und der Schule, bestätigt diese Aussage.

 

Verfasser: anonym Verfasser der Redaktion bekannt     Zuletzt aktualisiert: März 2018