Kevin

Leben mit dem Williams-Beuren-Syndrom

Von Katjas Mutter

Als Kevin vor neun Jahren geboren wurde, ahnten seine Eltern nicht, wie sehr sich ihr Leben verändern würde. Sie werden denken, dass dies ganz normal ist, wenn man zum ersten Mal Eltern wird. Allein diese Tatsache gleicht schon einem kräftigen Wurf ins kalte Wasser. Dies jedoch umso mehr, wenn sie bereits nach wenigen Wochen feststellen, dass sich ihr Kind nicht wie alle anderen seines Alters entwickelt. Nach einem Jahr der Ungewissheit, einer Zeit zwischen Hoffen und Bangen, ausgefüllt mit den Konsultationen verschiedener Fachärzte erfahren die Eltern: Kevin hat das Williams-Beuren-Syndrom.

Trotz der unabänderbaren Diagnose endlich Klarheit – wenn auch nur für kurze Zeit. Denn was ist schon klar und selbstverständlich, wenn man mit einem lernbeeinträchtigten Kind zusammenlebt und es optimal fördern will? Jeder Tag eine neue Herausforderung, ein neues Erlebnis, spannend, nervend, anstrengend, schön, traurig und glücklich zugleich. Jedoch auch hier ein Leben mit einer Gewissheit: Kevin wird geliebt und er gibt Liebe, er ist eine Bereicherung und ein Glück für seine Eltern, seinen Bruder und auch für uns. Und er setzt ungeahnte Energien bei seinen Eltern frei, die sich seit seiner Geburt für die Belange lernbeeinträchtigter Kinder einsetzen, allen Widerständen zum Trotz. Dem Engagement und dem hartnäckigen Einsatz der Eltern ist es zu verdanken, dass Kevin nach dem Besuch des Montessori-Kinderhauses heute Schüler einer Regelgrundschule ist.

Kevins Entwicklung

Nach der Diagnosestellung waren auch bei Kevin die typischen Merkmale eines Kindes mit dem Williams-Beuren-Syndrom erkennbar. Durch die organischen, körperlichen, und geistigen Defizite zeigten sich sehr schnell Entwicklungsverzögerungen beim Laufen, Sprechen, Trockenwerden, Fahrradfahren, beim Malen, kurz vielen Dingen der Fein- und Grobmotorik. Kevin ähnelt in seinem Aussehen allen Kindern mit WBS, er schielt und leidet unter einer Bindehautsschwäche. Obwohl erst neun Jahre alt, hat Kevin schon sehr viele Untersuchungen und insgesamt 8 Operationen hinter sich. Verständlich ist daher seine Skepsis und Angst gegenüber Ärzten. Die vielen Therapietermine beanspruchen nicht nur seine Eltern, sondern auch ihn, sind jedoch natürlich außerordentlich wichtig und unverzichtbar. Dazu gehören die Ergotherapie, heilpädagogische Maßnahmen, therapeutisches Reiten, Logopädie und musikalische Früherziehung.

Im Oktober 1995 wurde Kevin in die integrative Gruppe eines Montessori-Kinderhauses aufgenommen. Ein Glücksfall für Kevin und seine Eltern, wenn auch mit unzähligen Kilometern per Tag im Auto verbunden. Kevin freute sich auf die täglichen Fahrten, denn er ging ausgesprochen gerne ins Kinderhaus. Hier zeigte er keine nennenswerten Probleme und Auffälligkeiten in der Gruppe. Bereichernd war und ist immer noch die pädagogische Arbeit mit dem Montessori-Material, die den Bedürfnissen eines WBS-Kindes sehr entgegen kommt.

Grundsätze der Montessori-Pädagogik und Montessori-Therapie

Die Montessori-Pädagogik ruht auf drei Eckpfeilern:
1. dem Verhalten der Pädagogen,
2. der ,,vorbereiteten Umgebung",
3. dem Montessori-Material.
Die Montessori-Therapie fügt als vierten Eckpfeiler die intensive Zusammenarbeit mit allen Bezugspersonen dazu.

Das Verhalten des Montessori-Pädagogen unterscheidet sich sehr von dem eines Erziehers, eines Lehrers im landläufigen Sinne, der als Führungskraft auftritt, von dem man Vorgaben erwartet, der darauf achtet, dass diese Vorgaben prompt erfüllt werden. Montessori-Pädagogen sind ,,Diener des Kindes", die die Bedürfnisse des Kindes feststellen und versuchen, durch Angebote in der ,,vorbereiteten Umgebung" und/oder einer ,,Darbietung", Neugierde und Interesse zu wecken.

Maria Montessori hat den Ausdruck ,,Diener" sehr bewusst gewählt: ein wirklicher Diener hält sich im Hintergrund und beobachtet genau, wann und wo er gebraucht wird, wann und wo er stören würde. Er ist hilfsbereit und unterstützend, wenn dies nötig ist, zuverlässig und freundlich, aber niemals aufdringlich, bestimmend oder gar störend.

Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit dem WBS hat dies eine besondere Bedeutung. Sehr häufig genannte Probleme sind schlechte Konzentration und Hyperaktivität. Es liegt auf der Hand, dass beides besser zu steuern ist, wenn die Aufgabe, die Gegenstände interessant sind, Neugierde wecken und zum „Tun" verführen und auch noch selbst ausgesucht werden.

Trotzdem sind Regeln nötig, die von allen eingehalten werden, bei welchen es keine Ausnahmen gibt:
1. jede Übung wird zu Ende gebracht,
2. jedes Material wird nach der Arbeit ordentlich an seinen Platz zurückgestellt,
3. keiner darf den anderen stören.
Diese Regeln sind von allen einzuhalten, auch wenn dies für ein Kind mit Verhaltensaufälligkeiten vielleicht Hyperaktivität, sehr schwer ist. Es wird anfangs mehr Hilfe brauchen, klarere Strukturen, mehr Konsequenz des Pädagogen.

Maria Montessori gibt klare Anweisungen, wie das Material dargeboten (eingeführt) wird, wie mit einem Kind zu sprechen ist, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Alle Montessori-Pädagogen halten sich an diese Regeln. Erwachsene werden durch dieses einheitliche und beständige Verhalten besser durchschaubar, ihr Verhalten kann eingeordnet werden. Das hilft jedem Kind, sich in seiner Umgebung besser zu orientieren und dadurch Sicherheit zu finden, seine Grenzen zu suchen (und zu finden) oder sich einzufügen.

Montessori-Pädagogik bietet die freie Wahl:
– des Materials, das einladend in offenen Regalen aufgebaut ist
– der Zeit, wann und wie lange ein Kind mit etwas arbeiten/spielen möchte
– des Platzes, es stehen verschiedene Tische und Stühle zur Verfügung, Arbeitsteppiche können überall ausgelegt werden wo sie nicht stören!
– der Entscheidung, ob es alleine oder mit anderen spielen/arbeiten möchte
– der Entscheidung, ob und von wem es Hilfe annehmen möchte oder seine Versuche lieber alleine fortsetzt
– und ob es heute selbst arbeiten oder lieber andere beobachten möchte.

Dieses große Angebot an Entscheidungsmöglichkeiten setzt Entscheidungsfähigkeit voraus – die sehr oft erst gelernt werden muss.

Nicht zuletzt ist die Kooperation zwischen Eltern und Montessori-Therapeut fester Bestandteil des pädagogischen Ansatzes. Fachkräfte haben in der Regel viel Fachwissen. Viele können gut beobachten und Schlussfolgerungen ziehen. Sie sehen aber immer nur einen Ausschnitt des Tages, der Tagesverfassung und: sie geben ihre Verantwortung nach ,,ihrer Stunde" wieder an die Mutter, den Vater zurück. Fachkräfte begleiten eine Familie eine bestimmte Zeit, Monate oder auch Jahre, aber dann endet selbst die großzügigste ,,Maßnahme". Aus diesen Gründen sieht die Montessori-Therapie ihre erste Pflicht darin, den Eltern zu helfen und ihr Fachwissen so zu übermitteln, dass es zur Selbsthilfe wird.

Kevin und Katja

Unsere mittlere Tochter Katja (20 Monate jünger als Kevin) stieß 1996 zur integrativen Gruppe des Kinderhauses und am Nachmittag spielten die beiden Freunde des öfteren miteinander. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass einer der beiden eine dominierendere Rolle spielte. Katja wusste wohl, dass Kevin in ,,irgendeiner Form" ,,behindert" war und bestimmte Dinge daher vielleicht nicht so gut und schnell beherrschte wie andere Kinder. Dies ,,behinderte" ihr gemeinsames Spiel jedoch in keiner Weise, denn schließlich hatten wir unseren Kindern schon früh erläutert, dass jeder Mensch in irgendeiner Form ,,Behinderungen" oder ,,Beeinträchtigungen" aufweist.

Ich erinnere mich gerne an die Besuche Kevins bei uns zu Hause. Kevin war weder schüchtern noch gehemmt. Schnell nahm er mich mit seinem offenen, freundlichen Wesen für sich ein. Völlig begeistert zeigte er sich in der Küche von unserem Pürierstab und der Küchenmaschine. Gleich allen WBS-Kindern hat Kevin eine Vorliebe und ein großes Interesse an allen Dingen, die sich drehen und bewegen. Leider gab er sich mit meinen unfachlichen Erklärungen nicht zufrieden und ich überlegte, ob ich ihm vielleicht die Betriebsanleitung vorlesen sollte, um seinen Wissensdrang nach technischer Genauigkeit zu befriedigen. So weitkam es nicht, denn es erfreute ihn noch mehr, Erdbeeren im Mixer zu pürieren.

Darüber hinaus fiel mir sehr angenehm auf, dass Kevin kaum Verlangen nach Süßigkeiten zeigte, statt dessen Herzhaftes bevorzugte. In meiner Familie kaum vorstellbar, dass man auf Eis zugunsten eines Kräckers verzichtet. Dies ist jedoch bei WBS-Kindern nicht ungewöhnlich. Sie essen allgemein sehr wenig, sind dabei jedoch sehr wählerisch.

Bei einem unserer Kindergeburtstage stellte ich dann auch fest, dass Kevin vor dem ganz großen Geräuschpegel der übrigen kleinen Gäste die Flucht ergriff und sich mit interessanteren, ruhigeren Dingen in eine Ecke zurückzog. Auf der anderen Seite hört er im kleinen Kreis sehr gerne Musik.

Kevin wird eingeschult – Seine Eltern schaffen einen Präzedenzfall in Baden-Württemberg

Nach einem Jahr Rückstellung durfte Kevin im September 1999 seinen ersten Schultag in einer Regelgrundschule feiern. Dieser Satz schreibt sich ganz einfach, dahinter verbirgt sich jedoch ein enormer Einsatz von Kevins Eltern, die überhaupt erst durchsetzten, dass ihr Sohn die Regelschule besuchen darf. Grundsätzlich sieht die Schulordnung von Baden-Württemberg für lernbeeinträchtigte Kinder den Besuch einer Sonderschule vor. Wieso eigentlich, fragten sich Kevins Eltern. Immerhin gibt es in anderen Bundesländern (Niedersachsen, Bremen und Berlin) die Möglichkeit, behinderte oder lernbeeinträchtigte Kinder in einer ,,normalen" Klasse zu unterrichten, wenn eine qualifizierte Fachkraft zusätzlich zum Lehrpersonal dem Unterricht beiwohnt. 1998 hielt vor einem sehr interessierten Publikum Frau Professor Dr. Jutta Schöler in Baden-Württemberg einen Vortrag über integrative Schulmodelle und führte Beispiele aus ihrem Umfeld in Berlin vor. Der positive Effekt dieser Schulvariante liegt für sie klar auf der Hand: nicht nur die behinderten Kinder profitieren von ihren gesunden Klassenkameraden, sondern diese sind vielmehr ihrer Altersklasse an den normalen Schulen im Bereich Sozialverhalten weit überlegen. Sind nicht gerade in unserer heutigen Zeit Werte wie Rücksichtnahme üben, sich für Minderheiten stark machen, geduldiges Zuhören etc. wichtiger als die reine Stoffvermittlung? Darüber ließen sich natürlich endlose Streitgespräche führen, die an dieser Stelle zu weit führten. Nur soviel zu diesem Thema:Entwicklungsprozesse, Entscheidungen und klare Richtlinien von politischer Seite fehlen bis heute. Kevins Eltern folgerten daraus: es lohnt sich weiterzukämpfen! Warum sollen sie nicht einen Präzedenzfall schaffen?

Vor Kevins Einschulung sah der Schulrat einen Zivildienstleistenden als zusätzliche Kraft im Unterricht als ausreichend an. Er vertrat die Meinung, dass Kevin vor allem technische anstelle pädagogischer Unterstützung benötige. Die Eltern meldeten Bedenken an und blieben bei ihrer Forderung nach einer pädagogischen Fachkraft. Unterstützung erführen sie vom Kinderzentrum in München, das gleichfalls eine Sozialpädagogin für erforderlich hielt. Das Landratsamt – unterstützt vom Schulrat – genehmigte dennoch nur einen Zivi. Der Widerspruch der Eltern wurde vom Landratsamt abgewiesen. Auf eigene Initiative und Kosten fanden die verzweifelten Eltern eine Heilerzieherin, die Kevin seit dem ersten Schultag in der Klasse begleitet.

Die Eltern gaben nicht auf und erhoben Klage beim Verwaltungsgericht, das ihnen nach 18 Monaten Wartezeit im vollen Umfang Recht gab. Das Landratsamt wurde in dem Urteil zur Übernahme der Kosten (12 Wochenstunden) verpflichtet. Leider konnte der Ausgang des Urteils nicht lange gefeiert werden, war doch zu erwarten, dass das LRA die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg anstrebt. Ob ihm dies gelingt, ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar.

Während die Erwachsenen weiter hoffen, geht Kevin nach wie vor sehr gerne zur Schule. Es bleibt zu wünschen, dass für lernbeeinträchtigte Kinder wie Kevin Schulmodelle entwickelt werden, die die Talente dieser Kinder individuell fördern, um ihnen später eine ihren Möglichkeiten entsprechende Berufsausbildung zu ermöglichen. Integrative Modelle sollen dabei wo möglich im Vordergrund stehen. Nur so lässt sich spätere Isolation vermeiden. Oberstes Ziel sollte es sein, diese Kinder so früh wie möglich in die übrige Gesellschaft zu integrieren. Wie das funktioniert zeigen uns die Kinder auf ihre Art des Umgangs miteinander. Die „Großen" haben da weitaus größeren Nachholbedarf.

Wir wünschen Kevin, seinem Bruder und seinen Eltern, dass sie den Mut und die Kraft haben weiterzukämpfen. Mit ihrem persönlichen Anliegen unterstützen sie nicht nur die Belange der WBS-Kinder, sondern vielmehr aller lernbeeinträchtigten und behinderten Menschen.

 

Verfasser: anonym, Verfasser der Redaktion bekannt    Zuletzt aktualisiert: März 2018