Marei: ein Bericht aus dem Kindergarten

Dieses ist der Bericht über ein kleines liebenswertes Mädchen, das mit Williams-Beuren-Syndrom geboren wurde, und das ich 4 Jahre lang ein- bis zweimal pro Woche im Rahmen meiner Aufgabe als Fachdienst einer Kindergarten-Integrationsgruppe begleitet und mit ihm gearbeitet habe, außer in den Schulferien. Die Integrationsgruppe bestand aus 15 Kindern, von denen fünf von Behinderung bedroht oder tatsächlich behindert waren.

Als ich Marei im Alter von gut drei Jahren zum ersten Mal begegnete, war sie im Kindergarten eifrig damit beschäftigt, Geschirr aus einem Schrank auszuräumen. Ihr Vater saß gelassen neben ihr auf dem Fußboden und behütete sie liebevoll „mit den Augen“. Sieh an, dachte ich erfreut, das kann sie also schon, ein guter Anknüpfungspunkt für meine Arbeit.

Marei ist mir in diesen vier Jahren ans Herz gewachsen. Nicht nur sie ist mir vertraut, umgekehrt kennt Marei natürlich auch mich recht gut. Mareis bezauberndes Wesen hat mir den emotionalen Bezug zu ihr sehr leicht gemacht. Fast immer wurde ich schon am frühen Morgen freudig begrüßt. Nie ist ein böses Wort zwischen uns gefallen, obwohl sie alle ihre Gedanken bedenkenlos geäußert hat.

Beispiel: Wir sitzen am kleinen Kindergartentisch dicht nebeneinander, malen eifrig und tauschen uns aus. Marei plötzlich: „Du spuckst, Frau S.!“ Offensichtlich hatte ich im Eifer tatsächlich „etwas feucht geredet“. Marei hatte dies ganz richtig bemerkt und ohne Arg angesprochen, wie Kinder dies noch tun. Ich bestätigte ihr sofort, dass ihre Wahrnehmung richtig war. Ich sagte ihr, dass ich mir ab jetzt Mühe geben würde, dies nicht mehr zu tun. Marei fand das ganz in Ordnung und war zufrieden.

Marei wurde von mir gefördert in den Entwicklungsbereichen Grob- und Feinmotorik, Wahrnehmungsverarbeitung, Sprache und Sprachverständnis, Sozialverhalten und Selbständigkeit. (Dies geschah in Anlehnung an das Material der Funktionellen Entwicklungs-Diagnostik. Später kam die Visuelle Wahrnehmungsförderung nach Marianne Frostig hinzu.) Spielmaterial war in der Integrationsgruppe in reichem Maße vorhanden. Neben meinem kleinen geschützten Spielzimmer gab es einen großen, bestens ausgestatteten Turnraum.

In den ersten Monaten arbeitete ich mit Marei allein. Um Mareis Selbstwertgefühl zu unterstützen, ging ich bei der Arbeit mit ihr immer von einem Bereich aus, der ihr bereits vertraut war und den sie erfolgreich bewältigen konnte. Später nahm ich ein bis maximal drei andere Kinder dazu. Eine Zeitlang war Marei sehr auf Erwachsene fixiert wegen der vielen Einzeltherapien. Sie erwartete, immer von diesen beschäftigt zu werden und zeigte wenig Eigeninitiative. Nach Rücksprache im Team ging ich daher im Laufe der Zeit mehr und mehr dazu über, ihre Selbständigkeit und Gruppenfähigkeit zu fördern, während ihre speziellen Therapien durch die einzelnen Therapeuten abgedeckt wurden.

In der Regel suchte Marei sich die Kinder selber aus, die mit ihr zusammen zu mir „Zun1 Spielen“ kommen durften. Während sie sich anfangs stark an diesen Modell-Kindern orientierte und ihnen vieles abschaute, war sie zuletzt selber Vorbild für jüngere Kinder, erklärte ihnen z. B. stolz die Farben, korrigierte sie beim Zählen, erklärte ihnen Abläufe, die ihnen noch nicht vertraut waren. Vom Sozialverhalten her war Marei oft reifer als andere Kinder. Sie war interessiert und aufmerksam anderen gegenüber, ging liebevoll mit ihnen um und auf sie ein. Sie konnte verschiedene Stimmungen sicher erkennen und sprach dies auch an. So tröstete sie andere Kinder. Sie hatte Sinn für Humor und konnte ansteckend lachen. Im Laufe der Zeit entwickelte sie eine recht gute Frustrationstoleranz, sie lernte Abwechseln und Warten.

Marei kannte ihre Grenzen erstaunlich gut, z. B. in der Grobmotorik, und bestimmte selbst ihr Tempo. So ließ sie sich einmal durch nichts dazu bewegen, die Rutsche im Turnraum auch nur um eine Sprosse höher zu stellen, sondern rutschte immer und immer wieder aus der ihr vertrauten niedrigen Höhe. Beim nächsten Mal überraschte sie mich mit der Bitte, die Rutsche um zwei Sprossen zu erhöhen. In der Regel bestand Marei auch darauf alles allein zu machen.

Trotz dieser guten Entwicklung war Marei den anderen Kindern gegenüber oft im Nachteil. Selbst wenn sie eine Situation richtig erkannt hatte, reagierten die anderen Kinder rascher als sie, konnten sich besser behaupten und sorgten für ihren Vorteil. Marei benötigte in vielen Situationen eine vertraute Bezugsperson im Hintergrund, die sie notfalls schützen konnte.

Meine Arbeit mit Marei war eingebettet in ein zuverlässiges System: Die Erzieherinnen der Integrationsgruppe, die Eltern, der behandelnde Kinderarzt, die ambulanten Therapeutinnen und Therapeuten, die Experten im Kinderzentrum, die Kinder in der Integrationsgruppe, die Eltern dieser Kinder, die Erzieherinnen der beiden anderen Nicht-Integrationsgruppen. Die enge Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen der Integrationsgruppe, vor allem der Leiterin dieser Gruppe, war die Basis für die Förderung. Bei ihnen liefen nicht nur alle fachlichen Informationen zusammen, sondern sie kannten neben den Eltern das Kind am besten, waren mit ihm vertraut. Hier erfuhr ich immer aus erster Hand, wie es an diesem Morgen um Marei persönlich stand.

Die Erzieherinnen organisierten auch den regelmäßigen Austausch mit allen beteiligten Bezugspersonen. An erster Stelle standen die sehr engagierten Eltern, als Mitglieder einer Selbsthilfe-Gruppe ähnlich betroffener Eltern konnten sie uns auch fachlich sehr gut informieren. Ferner fanden regelmäßig Therapeuten-Gespräche statt. Dabei stand Marei als individuelle Persönlichkeit immer im Mittelpunkt mit ihren Stärken, ihren Schwächen und mit ihren Besonderheiten. Hierzu trafen sich Erzieherinnen, Fachdienst und alle beteiligten Therapeuten zum Austausch über das Kind: Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie/Sprachtherapie, Montessori-Einzeltherapie. Die Empfehlungen des Kinderzentrums flossen in unsere Überlegungen immer mit ein. Ohne die konstruktive Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Kinderarzt wäre dies alles nicht möglich gewesen. Bei ihm liefen viele Fäden zusammen, er war ein ganz wichtiger Ansprechpartner, nicht nur in Bezug auf die Kostenregelung.

Nach vier Jahren Integrations-Kindergarten ist Marei mit 7 Jahren nun ein Schulkind und freut sich selbstbewusst auf diesen neuen Lebensabschnitt. Sie hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich kleine Fortschritte in ihrer gesamten Entwicklung gemacht und wird dies auch weiterhin tun. Grund dafür ist an erster Stelle ihre Familie, ihr zu Hause, wo sie sich angenommen und geborgen fühlt und wo die Eltern für sie die Fäden in der Hand haben. Sie wird auch weiterhin einen beschützten Rahmen benötigen, in dem man ihre Stärken, ihre Schwächen und ihre Besonderheiten genau kennt und ihr in schwierigen Situationen zur Seite stehen kann.

Marei war für uns alle eine Bereicherung, für die wir dankbar sind. Nicht nur sie hat von uns gelernt, auch wir haben vieles durch sie gelernt.

Der medizinische Fachdienst

Als Marei zu uns in die Integrationsgruppe kam, war sie gerade drei Jahre alt geworden. Sie war dabei, das freie Laufen zu lernen, benötigte allerdings noch eine Windel. Sie war „das Baby“ in unserer Gruppe. Besonders die großen Mädchen bemutterten sie liebevoll. Aber auch die wildesten Rabauken waren im Umgang mit ihr vorsichtig und rücksichtsvoll.

In den vier Jahren bei uns machte Marei langsame, aber kontinuierliche Fortschritte in allen Entwicklungsbereichen. Im letzten Kindergartenjahr war sie stolz, zu den Großen zu gehören. Sie liebte es, Jüngeren etwas zu zeigen. Sie war nicht mehr die Kleine, Süße, die bemuttert und verwöhnt wurde. Sie war gleichberechtigt und musste sich durchsetzen. Manchmal war sie sogar recht bestimmend und es kam zu Konflikten, bei denen ein Erwachsener vermitteln musste.

Es war eine bereichernde Zeit mit Marei, sowohl für uns Erwachsene als auch für die Kinder unserer Integrationsgruppe und darüber hinaus für die bei den anderen Kindergartengruppen mit ihren Erzieherinnen, die sie regelmäßig besuchte.

Marei weckte in Allen Hilfsbereitschaft. Sie beeindruckte durch ihre fröhliche Art und ihr Einfühlungsvermögen. Sie spendete Trost, indem sie nur die Hand streichelte. Sie wurde von allen akzeptiert, wie sie war.

Es war ein selbstverständliches Miteinander. Mit ihrer ganz eigenen Persönlichkeit trug Marei ihren Teil zu einer harmonischen, ruhigen, liebevollen Atmosphäre bei.

 

Verfasser: die Erzieherin/anonym/Name der Radaktion bekannt    Zuletzt aktualisiert: März 2018