Das erste Gen, das direkt mit dem Williams-Beuren-Syndrom in Verbindung steht
Eine wissenschaftliche Erklärung für WBS-Familien von Howard M. Lenhoff, Vizepräsident der Williams Syndrome Foundation, USA und Professor für Entwicklungs- und Zellbiologie an der Universität von Kalifornien, Irvine (übersetzt von Horst Romm)
Die Entdeckung – ein Verlust des Gens für Elastin durch eine Mikrodeletion auf dem Chromosom 7:
Dr. Colleen Morris und ihre Mitarbeiter haben schlüssig nachgewiesen, daß fast allen Personen mit Williams Syndrom, die getestet wurden, das Gen für Elastin in einem der zwei Chromosomen fehlt, die „Chromosom 7" genannt werden. Die normalen Eltern besitzen hingegen beide Kopien dieses Gens. Jeder Mensch ohne WBS hat zwei Chromosomen 7, je eins von seinen beiden Eltern. In der Fachsprache bezeichnet man das Fehlen eines Gens oder eines kleinen Bereiches von einem Chromosom als Mikrodeletion. Eines der Gene, das mit der Mikrodeletion in dem Chromosom 7 bei WS Personen verlorengegangen ist, ist das Gen, das die Synthese von Elastin kontrolliert. Ein Protein, das wichtig ist für die Funktion von sich zusammenziehendem Gewebe, wie Herz und Arterien.
Ist eine Mikrodeletion eine Mutation?
Nein, nicht im engen Sinne. Ein Gen ist ein bestimmter Bereich auf der langen DNS-Helix, das Information für die Zelle bereit hält, um ein bestimmtes Eiweiß wie Hämoglobin oder Elastin herstellen zu können. Die DNS-Helix besteht aus einer spezifischen Anordnung von vier kleinen Molekülen, die hier kurz A, G, T und C genannt werden und die miteinander verbunden sind. Eine Mutation tritt auf, wenn ein fremdes Agenz, wie z. B. Strahlung, eine beständige Veränderung in einem der vier A, G, T und C Moleküle bewirkt. Im Kontrast hierzu handelt es sich um eine Deletion, wenn ein Gen oder eine kleine Anzahl an Genen von einem Chromosom entfernt werden.
Wo entstand die Mikrodeletion?
Die Mikrodeletion muß in dem Spermium oder der Eizelle entstanden sein, die sich zur befruchteten Eizelle vereinten, aus dem das Kind mit WBS erwachsen ist. Wir können davon ausgehen, daß während der Schwangerschaftmit dem WBS Kind nichts geschehen konnte, was zu dieser Mikrodeletion führte. Das Williams Syndrom entstand bei der Zeugung, und nicht danach.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Familie zwei Kinder mit WBS hat?
Extrem niedrig, mit Ausnahme von identischen (eineiigen) Zwillingen.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Schwester oder ein Bruder von einemIndividuum mit WBS ein Kind mit WBS bekommt?
Ebenfalls extrem niedrig, mit der selben Wahrscheinlichkeit wie andere Menschen aus der Bevölkerung.
Kann die Mikrodeletion von einem WBS Individuum, das ein Kind bekommt, weitergegeben werden?
Ja. Die Wahrscheinlichkeit beträgt 50 zu 50, daß ein WBS Elternteil seinem Kind das Chromosom mit der Mikrodeletion weitergibt. Das Elternteil mit dem WBS hat zwei 7er Chromosomen, ein Chromosom mit Mikrodeletion und eins ohne. Eins von diesen beiden Chromosomen ist in der Keimzelle (Spermium oder Eizelle), aus der eventuell das Kind entsteht. Falls es das Chromosom mit der Mikrodeletion ist, dann wird das Kind auch ein WBS Kind sein. Falls es das Chromosom ohne die Mikrodeletion ist, dann wird das Kind kein WBS Kind sein. Es ist allein eine Frage der Wahrscheinlichkeit, ob ein WBS Elternteil das Chromosom mit der Mikrodeletion an sein Kind weiter gibt.
Wird diese Entdeckung die frühzeitige Diagnose von WBS ermöglichen?
Ja. Denn es ist möglich, mit einem Fluoreszenz-Farbstoff gezielt das vollständige Chromosom 7 (das ohne Mikrodeletion) zu markieren (anzufärben), das defekte Chromosom 7 (das mit der Mikrodeletion) wird dabei nicht markiert. Es besteht die Möglichkeit, Zellen des jungen Embryo, die man mit dem Verfahren der Amniocentesis oder Chorionzottenanalyse gewonnen hat, zu analysieren. Auch die Zellen eines WBS Kindes kann man, völlig unabhängig vom Alter, analysieren lassen. Vielleicht der wichtigste Gesichtspunkt bei solch einer frühen Diagnose ist, daß nun die Möglichkeit besteht, diesen chromosomalen Test als schlüssigen diagnostischen Hinweis für WBS einzusetzen, wenn die Bewertungen von anderen Merkmalen des Syndroms fraglich sind. Nichtsdestotrotz, es besteht immer noch die Möglichkeit, daß es einen kleinen Prozentsatz an WBS Personen gibt, die nicht diese Mikrodeletion aufweisen.
Erklärt die Entdeckung der Mikrodeletion von dem Elastin Gen bei WBS Individuen auch dieMerkmale des Syndroms?
Nicht ganz. Die Mikrodeletion von dem Elastin Gen kann beinflusssen: die typischen Gesichtszüge, die tiefe Stimme, Divertikulose (die Bildung einer sackförmigen Ausstülpung) von Blase und Dickdarm; und Herz, Nabel-/Leistenbruch, und die damit verbundenen Probleme, die bei WBS Individuen auftreten. Warum? Weil ausreichende Mengen von dem Eiweiß Elastin für die normale Funktion von Herz, Aorta und anderen sich zusammenziehenden (kontraktilen) Geweben und Organen benötigt werden. Es ist sehr interessant zu wissen, daß es WBS Kinder, die eine Mikrodeletion des Elastin Gen aufweisen, sowohl mit als auch ohne Herzprobleme gibt.
Welche Fragen gibt es, die noch einer Antwort bedürfen?
Es ist zur Zeit noch ungeklärt, z. B., welchen Zusammenhang es gibt zwischen dem Fehlen von dem Elastin-Gen und Hyperkalzämie, mentaler Retardierung, musikalischen Fähigkeiten und anderen Merkmalen des WBS. Eine Möglichkeit, die noch näher untersucht werden muß, ist die Annahme, daß ein Gen oder mehrere Gene , die diese anderen Merkmale verursachen, in der Nähe des Elastin Gens sitzen. Durch die direkte Nachbarschaft gehen sie ebenfalls mit der Mikrodeletion verloren. Es ist auch möglich, daß die Mikrodeletion im Chromosom Nummer 7 bei WBS Individuen hinsichtlich ihrer Größe variiert, mit einer unterschiedlichen Anzahl an verloren gegangenen Genen. Dies trifft möglicherweise für Individuen zu, die einige der WBS Symptome aufweisen, aber trotzdem kaum mit Bestimmtheit zu diagnostizieren sind. Eine solche Variation in der Größe der Mikrodeletion erklärt möglicherweise zum Teil auch die große Variabilität hinsichtlich der Symptome bei verschiedenen Individuen.
Obwohl wir nun dem Verständnis über die genetische Basis des WBS viel näher gekommen sind, bedarf es noch einiger genetischer Forschung. Dank der Pionierarbeit von Dr. Morris und ihren Mitarbeitern sieht der Weg nun kürzer und klarer aus.