Die Angst bei Personen mit dem Williams-Beuren-Syndrom; ein Modell und Strategien
Von Karen Levine PhD, Robert H. Wharton MD, Sara Miranda LICWS
Ursprünglich erschienen in „Heart to Heart" (1999) Volume 16, Heft 1, Seite 6–10
(„Heart to Heart" ist die Zeitschrift der amerikanischen Williams Syndrome Association)
übersetzt von Daniel Ansari und Horst Romm
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Einleitung
Für viele Personen mit Williams-Beuren-Syndrom (WBS) kann Angst das sie am meisten behindernde Merkmal des Syndroms sein. Die Angst der Personen mit WBS beginnt gewöhnlich bereits in ihrer frühen Kindheit. Tatsächlich können die Reizbarkeit der Säuglinge und die erhöhte Empfindlichkeit der Sinneswahrnehmung bei Kleinkindern und jungen Kindern bereits die Vorstufen von Komponenten der Angst darstellen. Die erfreuliche Nachricht ist, daß sie im allgemeinen gut behandelt werden kann. Außerdem gelingt es den Kindern, wenn sie älter und erwachsen werden, zunehmend besser mit ihrer Angst umzugehen und dadurch wird sie weniger problematisch. In diesem Artikel möchten wir ein Modell der Angst bei Personen mit WBS darstellen und verschiedene Ansätze der Intervention besprechen.
Studien von Barbara Pober, MD, und ihren Mitarbeitern, als auch unsere klinische Erfahrung, führen zu der Annahme, daß die Angst bei Personen mit WBS von ihrem Wesen her allgemeiner Angst und sogenannten „einfachen Phobien" (DSM-IV, American Psychiatric Association, 1994) entspricht. Sowohl allgemeine Angst, als auch spezifische Phobien, kommen bei den meisten Personen mit WBS vor. Eine Phobie ist eine extreme und unbegründete Furcht vor einer Sache oder einer Situation. Die Furcht ist so extrem, daß sie für die betroffene Person zu einem Problem wird. Die Furcht kann sie dazu bewegen, Situationen zu vermeiden, die für sie auch sehr schön sein könnten, oder sie führt dazu, sich übertriebene Sorgen über eine bevorstehende Situation zu machen, in der ihr etwas begegnen könnte, das eine Phobie auslöst.
Personen mit WBS haben am häufigsten Phobien in Zusammenhang mit ihrer Geräuschempfindlichkeit. Insbesondere Sirenen, Feuerwehralarm, Feuerwerk, Donner und Haushaltsgeräte (z. B.: Küchenmixer, Kaffeemühle, Staubsauger, Haarföhn), Rasenmäher und das plötzliche laute Husten oder Gelächter von anderen Personen sind typische Quellen der Furcht, aus denen oft Phobien entstehen. Außerdem erleben viele Personen mit WBS ereignisbezogene Phobien, besonders in der Erwartung von neuen Ereignissen, guten sowie schlechten (z. B.: Reisen, Parties). Bevorstehende Ereignisse, die mit Schmerzen verknüpft sind, wie Spritzen oder der Besuch beim Zahnarzt, sind auch häufig Auslöser für Phobien. Aktivitäten, die Veränderungen des Gleichgewichtes mit sich bringen (den Vestibularapparat betreffen) wie z. B.: Rolltreppen, Fahrstühle oder Flugzeuge, können ebenfalls zu Quellen für Phobien werden.
Unterschiede in der Art und Weise der Angst bei Personen mit WBS, verglichen mit der übrigen Bevölkerung.
Während die eigentliche Erfahrung der Angst bei Personen mit WBS und sich normal entwickelnden Personen gleich zu sein scheint, so gibt es doch einige Unterschiede, deren Kenntnis für diejenigen, die Personen mit WBS behandeln, hilfreich sein können. Wie oben erwähnt, sind einfache Phobien sehr häufig bei Personen mit WBS, besonders in Verbindung mit Geräuschen. Es ist wichtig, sie zu behandeln, obwohl sie nichts krankhaftes oder abnormales im Zusammenhang mit dem WBS widerspiegeln. Die Erfahrung von plötzlichen und unerwartet lauten Geräuschen ist für Personen mit WBS sehr unangenehm. Deshalb ist es als ursprüngliche Überlebenshilfe für diese Personen angebracht, einen Mechanismus wie Angst einzusetzen, der sie vor Situationen schützt, wo sie Lärm ausgesetzt sind. Wenn die Angst jedoch so stark wird, daß sie für die Person sehr unangenehm wird oder dazu führt, daß sie positive Situationen vermeidet, dann erfüllt sie ihre Funktion nicht mehr und sollte behandelt werden.
In der Bevölkerung sind Trennungsängste die häufigste Form der Angst; ungefähr 3 von 100 Kindern leiden an dieser Art von Angst. Einfache Phobien kann man bei ungefähr 2–4 von 100 sich normalentwickelnden Kindern feststellen (Bernstein et al., 1996). Dieses seltene Vorkommen steht im Widerspruch zum dem üblichen Vorhandensein von Phobien bei Personen mit WBS. Obwohl über das Vorkommen keine exakten Daten existieren, ist es ungewöhnlich, eine Person mit WBS zu treffen, die nicht auf eine Art ängstlich ist. Bei Personen mit WBS sind die typischen Quellen kindlicher Angst wie Monster, Dunkelheit oder Einbrecher nicht so häufig. Auch die Angst vor der Trennung von der Familie ist zwar gängig, jedoch unterscheiden sich diesbezüglich Kinder mit WBS nicht von anderen Kindern. Angst vor Fremden ist unglücklicherweise nicht sehr verbreitet! (Aus diesem Grund müssen die Eltern ihr Kind mit WBS zu einer Distanziertheit gegenüber Fremden erziehen.) In der Bevölkerung kommt Angst am häufigsten bei Personen vor, die als kleine Kinder gehemmt, scheu und voller Furcht waren (Kagan et al., 1988). Allerdings sind die meisten Kinder mit WBS nicht gehemmt, sondern eher offen und direkt. Weiterhin haben einige Studien ergeben, daß Angst bei Mädchen häufiger vorkommt (Bell-Dolan, 1990). Unseren klinischen Erfahrungen zufolge gibt es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Kindern mit WBS, jedoch sind noch weitere Studien erforderlich, um dies zuklären.
Trotz dieser Unterschiede in Hinsicht auf Häufigkeit, Geschlecht und Art der Angst sind die spezifischen physiologischen Mechanismen in der Bevölkerung und bei Personen mit WBS gleich. Hierbei ist es besonders wichtig hervorzuheben, daß die Behandlungsformen bei den sich normal entwickelnden Personen auch den Personen mit WBS helfen. In der Tat kann es sein, daß Personen mit WBS besonders von Therapien profitieren, die auf Sprachwahrnehmung und Gehör basieren, wie die angeleitete bildhafte Vorstellung.
Modell einer Phobie
Eine Phobie ist definiert als das, was geschieht, wenn eine Person, die ursprünglich eine unangenehme Reaktion auf ein Erlebnis hatte, eine große und unangenehme Angst verspürt, die dauerhaft mit dem Erlebnis verknüpft bleibt. Wie bereits oben erwähnt, ist ein gewisses Maß an Angst in gefährlichen Situationen sinnvoll und hilft uns, Situationen zu vermeiden, die bedrohlich werden können. Bei allen Menschen, einschließlich derer mit WBS, entwickelt sich eine Phobie nach folgendem Schema: Eine Person hat ursprünglich ein höchst bewegendes Erlebnis, das als Bedrohung erfahren wird, wie z. B. wenn man direkt neben einer Feuersirene sitzt, die plötzlich losgeht, oder wenn plötzlich ein Fremder durch das Küchenfenster stürzt. Dieses Erlebnis löst einen augenblicklichen Anstieg der Angst aus und daher auch eine Verstärkung der Erregung und der Aufmerksamkeit. Das interne GEFAHR Alarm System oder was man auch als das „Kampf-Flucht-System" bezeichnet, wird aktiviert. Diese Aktivierung bewirkt, daß die Person wesentlich aufmerksamer wird und sich auf diese Gefahr konzentrieren kann. Gleichzeitig werden die Pupillen der betroffenen Person feucht und vergrößern sich. Außerdem werden der Pulsschlag sowie die Atmung schneller. All diese Veränderungen bzw. Anpassungen helfen der betroffenen Person, sich mit der Gefahr so auseinanderzusetzen, daß sie überleben kann. Während die Person auf die akute Gefahr reagiert, stellt das Gehirn gleichzeitig sicher, daß die betroffene Person auch in Zukunft Gefahren ähnlicher Art überleben wird. Dies geschieht, indem das Gehirn Informationen aufnimmt, die es der Person später ermöglichen werden, ähnlichen gefährlichen Situationen fernzubleiben. Im großen und ganzen ist dies sicher ein guter Rat. Generell lernen wir so, uns von Gefahren fernzuhalten, und somit in Sicherheit zu bleiben.Ein Kind hüpft zu nahe an den Bettrand und fällt hinunter. Daraufhin entwickelt es eine gesunde Angst vor dem Hüpfen in der Nähe des Bettrandes. Diese Funktion der Angst ist wichtig für das Überleben.
Eigenschaften von Personen mit dem WBS, die zu einer stärkeren Anfälligkeit für Phobien führen.
Der oben beschriebenen Entwicklungsprozeß von Phobien ist für alle Menschen gültig, nicht nur für Personen mit dem WBS. Allerdings gibt es einige Unterschiede bei Menschen mit WBS, die sie anfälliger für Angstzustände machen.
1. Das Wahrnehmungssystem scheint einfach sensibler zu sein. Viele Personen mit WBS hören Geräusche, die andere gar nicht bemerken und stören sich eher an bestimmten Geräuschen. Außerdem reagieren sie empfindlicher auf körperliche Berührungen, auf Anhänger oder kratzige Bekleidungsstücke, auf schnelle Bewegungen etc. Deshalb schaltet sich ihr Angst 'Alarm' oder das Gefahrensignal öfters ein.
2. Die meisten Menschen mit WBS haben von Natur aus eine höhere 'Basiserregtheit'. Sie scheinen die ganze Zeit auf einem Hoch zu sein. Deshalb braucht das „Erregungssystem" nicht viel Energie, um eine sehr hohe Stufe der Erregung zu erreichen. In ähnlicher Weise steigt die Erregung von „0 auf 60" viel schneller an. Mit anderen Worten, Personen mit WBS können recht schnell von einem ruhigen Zustand in einen Zustand höchster Angst oder Aufregung wechseln.
3. In einem Zustand der Erregung funktioniert das Aufnahmesystem oder Langzeitgedächtnis sehr gut, auch bei Personen mit einer sehr starken Lernbehinderung.
Funktionen der Angst/Phobie.
Während Angst ein Mittel sein kann, das uns vor gefährlichen Situationen schützt, wird es problematisch, wenn sie so häufig vorkommt, daß die Person nicht mehr mit geringfügigen Gefahren umgehen kann. Dies ist der Fall, wenn das „Alarm System" eines Menschen zu leicht ausgelöst wird. Der Rauchalarm in unserem Haus wird fast immer ausgelöst, wenn wir mit mehr als einer Herdplatte kochen und signalisiert somit GEFAHR. Ähnlich ist es mit dem Gefahrensignal, das bei vielen Personen mit WBS angesichts kleiner Gefahren oder Sinneswahrnehmungen ausgelöst wird. Ein Rasenmäher im Garten des Nachbarn wird angeschaltet und ein Kind mit WBS kann sich nicht mehr konzentrieren und weiterspielen.
Außerdem wird Angst dann hinderlich und problematisch, wenn sie dazu führt, daß die betroffene Person Situationen vermeidet, die offensichtlich kein Gefahrenpotential in sich bergen. Für Personen mit WBS wird Angst oft dann problematisch wenn sie sich 'ausweitet'. Unser System tendiert zur Verallgemeinerung. Das Kind hat nicht nur Angst vor dem Hüpfen in der Nähe von Betträndern, sondern bekommt Angst vor Betten oder Hüpfen oder vor beidem. Angst verallgemeinert oder überträgt sich auf alles, was während einer Phase hoher ängstlicher Erregung aufgenommen wurde. Und auf alles, was mit dem Aufgenommen in irgendeiner Weise verknüpft ist. Die Angst beschränkt sich nicht nur auf die Komponenten der Situation, die für die Furchterregung bedeutend sind. Ein Kind mit WBS wurde durch das Geräusch, das Reifen auf Eis verursachen, alarmiert. Daraufhin wurde es ängstlich, wenn es Schnee sah, weil Schnee mit Eis verbunden ist. Dann wurde es ängstlich wenn es einen bedeckten Himmel sah, weil es ja schneien könnte oder wenn es im Wetterbericht hörte, daß es stürmen könnte. Außerdem wollte es nicht zur Schule gehen, denn es hatte das Geräusch von Reifen auf Eis zum erstenmal auf dem Schulweg wahrgenommen. Angst verursacht ein unangenehmes Gefühl, das wir natürlich abzuschwächen versuchen. Es gibt eine Vielfalt von Wegen, mit denen Menschen dies versuchen. Man kann vor ähnlichen Situationen fliehen oder diese vermeiden. Man kann die Ursache der Angst dadurch bekämpfen, daß man sich mit dem Gegenstand, der die Angst hervorruft, überhäuft, um ihm dadurch seinen Einfluß zu nehmen. Wir alle benutzen diese Methode bis zu einem bestimmten Grad, indem wir uns zum Beispiel furchterregende Filme oder Krimis ansehen. Um mit der Ursache ihrer Angst fertig zu werden, oder um diese zu bekämpfen, sind Personen mit WBS oft wie besessen von der Sache, die in ihnen Angst hervorruft. Ein Kind, das Stürme fürchtet, könnte somit besessen sein von dem Wetterkanal, von Wetterkarten etc.. Ein Kind, das große Angst vor dem Geräusch von Rasenmähern hat, könnte schließlich lernen, das Geräusch sowie die Marke von jedem Rasenmäher in der Nachbarschaft zu kennen.
Personen suchen sich verschiedene Beschäftigungen, die ihnen Erleichterung von dem unangenehmen Gefühl verschaffen, welches das interne Alarmsystem in ihnen hervorruft. Schaukeln, Nägelkauen, Händereiben, nach Bestätigung suchen, wiederholt nach Bestätigung suchen, sind alles gängige Reaktionen auf Angst in der Bevölkerung. Viele dieser Verhaltensweisen sind auch bei Menschen mit WBS gängig. Wir haben den Eindruck, daß viele der „abnormalen" Verhaltensweisen von Personen mit WBS Versuche sind, ein unangenehmes Gefühl, hervorgerufen durch große Angst, zu bekämpfen.
Interventionen:
Verhaltensstrategien um phobische Angst zu reduzieren. Es gibt viele Möglichkeiten, das Problem der phobischen Angst anzugehen. All die nachfolgend beschriebenen Methoden können zusammen angewendet werden. Jede einzelne dieser Methoden kann von Eltern, Lehrern und Therapeuten, wie Sprach- oder Ergotherapeuten, ausprobiert werden. Wenn Sie es allerdings schwierig finden, die Sache „in Gang zu bringen", kann es für den Anfang sehr hilfreich sein, wenn Sie sich einige Stunden von einem Psychologen beraten lassen, der im Umgang mit Angstzuständen Erfahrung hat.
Wie man dem Modell entnehmen kann, ist es möglich, Angst in jedem Stadium ihrer Entwicklung anzugreifen. D. h.: Interventionen können die „Alarm Aktivierungsebene", die „Systembeschleunigungsebene" und/oder die „Ausdehnungsebene" angreifen. Auf der „Alarm Aktivierungsebene", kann man die Umgebung verändern, um für weniger plötzliche Geräusche, Berührungen oder Zeitplanänderungen zu sorgen. Zum Beispiel kann man die Lautstärke des Telefons und der Schulklingel reduzieren (Einige Schule spielen stattdessen Musik!). Man kann den Rasen mähen, während die Person mit WBS außer Haus ist. Man kann das Kind mit WBS vor einem unangenehmen Ereigniswarnen („Ich werde gleich den Mixer anschalten – willst du mir helfen oder nach oben in dein Zimmer gehen?"). Wenn man dem Kind ermöglicht, das Geräusch selber auszulösen, reduziert man den Überraschungseffekt. Dies kann selbst dann effektiv sein, wenn das Kind nur so tut, als ob es hilft. Zum Beispiel kann das Kind im Haus einen Schalter betätigen, wenn draußen jemand den Rasenmäher anschaltet. Diese Methode kann wirksam sein, weil sie die plötzliche Überraschung reduziert. Das Kind kann seine physiologische Reaktion auf das Geräusch besser vorbereiten und die Erregung reduzieren. In ähnlicher Weise kann man die Wirkung der angsterregenden Stimuli verringern, indem man sich darauf einstellt. Zum Beispiel kann man einen Kopfhörer oder eine Mütze aufsetzen, um den Geräuschpegel zu senken. Eine Person kann sich angenehme Musikkassetten anhören, um das Gehör abzulenken, wenn laute, unangenehme Geräusche zu erwarten sind.
Hör- und Sehentspannungstechniken
Hör- und Sehentspannungstechniken können auf der „Systembeschleunigungsebene" zum Reduzieren der Angst sehr erfolgreich sein. Personen mit WBS können mit einer Vielzahl von Strategien lernen, die Angsterfahrung in ihren Anfängen zu verringern. Wenn man es schafft, sich zu entspannen, kann der Körper nicht gleichzeitig eine Verstärkung der Angst erfahren. Personen mit WBS haben oft berichtet, daß Entspannungstechniken sehr nützlich sein können. Sara Miranda, LICSW und ich haben viele Entspannungstechniken in Gruppen von Jugendlichen und Erwachsenen mit WBS geübt und haben erlebt, daß diese Gruppen recht schnell tiefe Entspannung erreichen. Wir haben einer Gruppe von jungen Erwachsenen in einer 2-stündigen Veranstaltung die Technik der angeleiteten bildhaften Vorstellung beigebracht. Einer der Teilnehmerinnen hat beschrieben, daß sie einige Wochen später auf einer Party mit Luftballons war. Luftballons lösen typischerweise starke Angst bei ihr aus. In Erwartungshaltung auf das Geräusch, das platzende Luftballons machen, war es ihr spontan möglich, die angeleitete bildhafte Vorstellung einzusetzen. Dadurch konnte sie sich entspannen und auf der Party zu bleiben. Es scheint so zu sein, als ob das Wissen, daß man Kontrolle über die Angst haben kann, auch das Gefühl der Hilflosigkeit reduziert, das durch die Angst ausgelöst werden kann. Damit diese Techniken ihre maximale Effektivität erreichen, hilft es, wenn man den Personen mit WBS beibringt, ihre eigenen physiologischen Merkmale der Angst zu erkennen, wie ein rasendes Herz, schwitzige Handflächen, schnelles Atmen. In unseren Veranstaltungen fiel es den meisten Personen mit WBS leicht, diese Anzeichen zu erkennen. Die Fähigkeit, die frühen Anzeichen einer Angsterfahrung zu erkennen, ist der Schlüssel, um diesen Kreislauf zu durchbrechen und das eigene Angstempfinden zu reduzieren. Verbale Entspannungstechniken wie die angeleitete bildhafte Vorstellung („Sie sind am Strand.... Sie atmen langsam... ein und aus... Ihre Arme entspannen sich....") sind relativ einfach für Personen mit WBS und sie sprechen gut darauf an. Die meisten Bücherläden führen in ihren „Selbsthilfe" Abteilungen Taschenbücher, in denen solche Techniken und Methoden beschrieben sind, oder sie können selber welche erfinden. Wir finden, daß in dem Buch "The Relaxation and Stress Reduction Workbook, 4th Edition (1995)" (Anm. d. Ü.: Deutsche Übersetzung: Stressabbau – Training, Bechtermünzverlag, ISBN: 3828918182), viele besonders nützliche Bewußtseins- und Vorstellungstechniken beschrieben sind. Sie können etwas hinzufügen oder verändern, um eine bestimmte Übung besonders geeignet für die Person mit WBS zu machen, mit der Sie zusammenarbeiten. Es könnte auch hilfreich sein, mit einem Psychologen zusammen zuarbeiten, der sich auf solche Methoden spezialisiert hat. Diese Therapeuten nennen sich oft „Verhaltenstherapeuten". Ein guter Anfang ist es, wenn man die Person bittet, sich ihren Lieblingsort zum Entspannen vorzustellen. In unseren Veranstaltungen haben die Teilnehmer ruhige Orte wie den Garten, das Familiensommerhaus oder den Strand gewählt. In Kalifornien stellen sich viele Jugendliche und Erwachsene vor, im Whirlpool zu sitzen! Durch die Arbeit bei unseren Veranstaltungen haben wir den Eindruck gewonnen, daß Personen mit dem WBS es oft einfacher als andere Personen schaffen, mit diesen Techniken intensive Entspannung und Wohlbefinden zu erreichen. Vielleicht liegt dies daran, daß sie stärker auf Hörwahrnehmung reagieren. Die Techniken sollten zum ersten Mal geübt werden, wenn sich die Person in einem entspannten Zustand befindet und keine Angst hat. Danach können sie in Phasen der Angst angewandt werden. Wenn man während dieser Übungen ruhige Musik im Hintergrund laufen läßt, kann dies den Entspannungseffekt verstärken. Die Person mit WBS könnte sich eine Kassette mit einer für sie erfolgreichen Vorstellungsmethode aufnehmen, oder ein Erwachsener könnte eine Kassette für sie aufnehmen, mit beruhigender Musik oder Wellengeräuschen im Hintergrund. Die Idee hierbei ist, daß sich das betroffene Individuum im Streß an diese Techniken erinnern und sie anwenden kann. Die Person kann sich Entspannung verschaffen, indem sie die Entspannungsroutine wiederholt. Eine Kassette kann dann benutzt werden, wenn man sich in einer Situation befindet, die üblicherweise Streß hervorruft, wie das Warten in der Praxis eines Arztes oder während einer medizinischen Untersuchung, während einer Flugreise etc.
Geschichten mit einem sozialen Inhalt: „Soziale Geschichten"
„Soziale Geschichten" sind eine Methode, die von Carol Gray entwickelt wurde und in ihrem Buch beschrieben ist. Diese Methode ist besonders nützlich, um fortgeschrittene spezifische Phobien bei Kindern und auch Erwachsenenzu behandeln. Die Person mit WBS kann, zusammen mit den Eltern oder einem Lehrer ein Heft zusammenstellen, in welchem das Ereignis und die erwünschte Reaktion der Person, das besonderes Verhalten, beschrieben wird („Ich begebe mich ins Flugzeug und schnalle mich an. Ich setze meine Kopfhörer auf. Ich atme tief ein, während das Flugzeug startet"). So kann die betroffene Person mit WBS ihr Verhalten mehrfach üben, bevor das eigentliche Ereignis stattfindet.
Rollenspiele
Rollenspiele können sehr effektiv sein. Ziel des Rollenspiels ist es, daß die Person mit WBS einen kleinen Teil der Angst verspürt, um sich dann zu entspannen und somit die Angst zu bewältigen. Hierbei kann es nützlich sein, echte Requisiten zu benutzen. Man kann dabei die Beteiligten dazu bewegen, die Rollen zu tauschen, so kann eine Person erst den „Alarm" spielen und dann die Person, die Angst vor dem „Alarm" hat usw.. Dies kann der Person helfen zu lernen, auf einen Zustand der Angst mit einer Entspannungstechnik zu reagieren. Personen mit WBS können besonders gut echte Emotionen hervorrufen. Rollenspiele können für Jugendliche und Erwachsene sehr unterhaltsam sein, wenn sie wie eine Theaterprobe gestaltet werden, mit vielen spielerischen Emotionen. In den mittleren und älteren Schulklassen kann es auch sehr hilfreich sein, einen Theaterlehrer zu Rate zu ziehen. In kleinen Gruppen, kann es sehr viel Spaß machen, ähnlich wie ein Partyspiel.
Nachahmungs- und Puppenspiel
In ähnlicher Weise wie Rollenspiele können Nachahmungs- und Puppenspiele für kleinere Kinder sehr wirksam sein. Wenn man Puppen oder Figuren in den selben Situationen ängstlich werden läßt, wie das Kind mit WBS, können diese lernen sich zu entspannen und ihre Angst zu bewältigen. Diese Art von Spiel sollte in einer spielerischen und spontanen Art und Weise geschehen. Die meisten Kinder genießen diese Art von Spiel besonders dann, wenn es sich um eine Sache dreht, die sie besonders interessiert. Wiederum ist es am effektivsten, wenn das Kind während des Spiels ein bißchen ängstlich wird, um dann zu erfahren, wie es ist, diese Angst zu bewältigen. Echte Requisiten können dazu beitragen, daß das Spiel einen realistischen Charakter erhält. Zum Beispiel könnte eine kleine, leise Glocke die Schulglocke darstellen. Das Kind sollte am Suchen, Herstellen und Kaufen von Requisiten aktiv teilnehmen. Je mehr Kontrolle es über alle Aspekte der Situation empfindet, desto unwahrscheinlicher ist es, daß es sich von der Angstempfindung überwältigt fühlt. Wenn man den Erwachsenen die Rolle des ängstlichen Kindes, und das Kind die Rolle des beruhigenden Erwachsenen übernehmen läßt, so kann dies dem Kind helfen, die beruhigende Stimme des Erwachsenen zu verinnerlichen („Mach Dir keine Sorgen, Mamma, atme einfach tief ein!"). Andere Kinder und die Geschwister mitmachen zu lassen, kann auch viel Spaß bringen. Es ist oft am hilfreichsten, wenn man die Angst des Kindes übertrieben spielt (z. B. ein blöde, ängstliche Grimasse zu schneiden, so tun als würde man hinfallen oder die Puppe aus lauter Angst stolpern zu lassen, wenn das gefürchtete Geräusch anfängt). Durch die Übertreibung, wird das ganze spielerischer und lustiger und ermöglicht dem Kind, sich wirklich zu entspannen und es zu genießen und sich im Spiel emotional richtig gehen zu lassen. Natürlich sollte man nie einen neckischen Ton benutzen, sondern spielerisch üben und helfen, die Angst zu bewältigen.
Medikamente
(Anm. d. Ü.: Beachten Sie bitte den Kommentar zur Übersetzung am Ende des Textes)
Medikamente können für manche Menschen sehr hilfreich sein, insbesondere um Angstsymptome bei spezifischen Phobien zu reduzieren, und außerdem, um generalisierte Angst zu verringern. Medikamente können zusammen mit jeder der oben beschriebenen Techniken verwendet werden. Durch die Einnahme von Medikamenten wird die Angst häufig nicht verschwinden, aber es erleichtert den Umgang mit der Angst. Ziel ist es, das Individuum so funktionsfähig wie möglich zu machen und ihm zu ermöglichen, von den oben beschriebenen Interventionen zu profitieren. Es gibt einige Dinge, die man beachten sollte, wenn man darüber nachdenkt, Medikamente zur Behandlung von Angst einzusetzen. Erstens: welche anderen Versuche wurden unternommen, um die Angst zu kontrollieren. Zweitens: wie häufig und unter welchen Umständen treten die Angstzustände auf. Und drittens: bis zu welchen Grad beeinträchtigt die Angst das Leben des Kindes und sein Wohlbefinden.
Methodisch gesehen sollten Medikamente nie die erste Maßnahme sein, um Angst zu behandeln. Man sollte zuerst immer mit den oben beschriebenen Intervention beginnen. Selbst wenn diese Maßnahmen alleine nicht vollkommen hilfreich sind, sollten sie immer noch in Kombination mit Medikamenten benutzt werden.
Wenn die Angst entweder so durchdringend ist, daß sie, wenigstens bis zu einem bestimmten Grad, die meisten täglichen Aktivitäten des Kindes beeinflußt, oder so dramatisch stark ist, daß sie das Kind hindert, an einer oder mehreren Aktivitäten teilzunehmen oder diese zu genießen, dann sollte man an Medikamente denken. Es gibt Kinder, die dauernd sehr ängstlich sind, die Probleme haben, mit neuen Situationen umzugehen oder augenblickliche Situationen zu genießen. Personen, die Angst vor spezifischen Situationen, Geräuschen oder bestimmten Empfindungen haben oder unter Panikattacken leiden, sollten auch eine Behandlung erwägen. Letztlich sind Medikamente auch nützlich für Kinder, die generell sehr ängstlich sind und erwarten, daß Ereignisse sie sehr stark emotional mitnehmen werden (z. B.: in Erwartung schöner Ereignisse wie einer Party oder unangenehmer Erlebnissen, wie dem Besuch beim Hausarzt).
Es gibt eine Reihe von Medikamenten die auf Angstsymptome ansprechen. Zu diesen zählen die trizyklischen Antidepressiva, Benzodiazepine (die Valiumfamilie der Medikamente), die Serotin Inhibitoren (die Prozac Familie), sowie die Gruppe von Medikamenten, die man als Beta Blocker bezeichnet, die Buspiron Medikamente, sowie einige weniger bekannte Medikamente.
Bei den trizyklischen Antidepressiva hatte man positive Ergebnisse bei Angsterkrankungen sowie bei Panikerkrankungen. Diese Medikamente haben einige Nebenwirkungen, die Kinder und Jugendliche als unangenehm empfinden können, wie ein trockener Mund und Probleme bei der Toilette. Außerdem ist sehr viel Vorsicht angebracht, wenn diese Medikamente verschrieben werden. Man sollte eine EKG-Untersuchung durchführen lassen oder den Herzrhytmus ermitteln, um sicher zu stellen, daß bei den Herzfunktionen keine Auffälligkeiten vorliegen. Benzodiazepine können sehr wirksam sein, wenn bestimmte Ereignisse zu starken Problemen führen. Diese Medikamente, wie Valium und Klonopin wirken sehr schnell und verlassen den Körper recht zügig. Deswegen sind sie zur Einnahme vor Ereignissen wie Flugreisen, schwierigen sozialen Aktivitäten und anderen Ereignissen, die bei der Person starke Symptome, wie einen rasenden Puls, ein rotes Gesicht, schnelle Atmung, Schweißausbrüche, sowie andere Symptome hervorruft, besonders geeignet.
Von Prozac, Paxil und anderen Serotin Inhibitoren (SSRI's) weiß man, daß sie hilfreich für Personen aller Altersgruppen sind, die unter starker Angst und Panikattacken leiden. Bei diesen Medikamenten sind wenig Nebenwirkungen bekannt, und deswegen sind sie besonders für Kinder geeignet. Allerdings kann es 6–8 Wochen dauern, bis die positive Wirkung anfängt. Deswegen ist die Wirkung nicht so schnell wie die der Benzodiazepine.
Zu den anderen Medikamenten, die oben beschrieben wurden, zählen die Beta Blocker, sowie Propanolol und Buspiron. Bei Patienten, die ein Herzproblem haben, sollte dies vorher mit einem Kardiologen besprochen werden. Schließlich gibt es noch Clonidin, ein Medikament, das als Antihypertonikum bei Erwachsenen eingesetzt wird und für Kinder nützlich sein kann,die immer recht aktiv und erregt sind, was oft zu starker Angst führt. Clonidin hilft, indem es die erhöhte Erregung. reduziert, die bei Kindern dazu führt, daß sie zusätzliche Erregung durch Angst nicht tolerieren können. Clonidin verringert den Grad der Erregung so, daß er dem Grad, der für gleichaltrige Kinder typisch ist, entspricht. Dies ermöglicht den Kindern, mit dem täglichen Stress besser umzugehen.
Literatur:
American Psychiatric Association (1987), Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th edition (DSM-IV). Washington, DC: American Psychiatric Association.
Bell-Dolan DJ, Last CG, Strauss, CC (1990), Symptoms of Anxiety Disorders in Normal Children. Journal of American Academy of Child and AdolescentPsychiatry 29: 759-765.
Bernstein, Gail A. ; Borchardt, C.M.; Perwien, A.R. Anxiety Disorders in Children and Adolescents: A review of the past 10 years. J. of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, V. 35 (9), September 1996, 1110-1119.
Davis, M. Eshelman, E.R. & McKay, M. (1995). The Relaxation and Stress Reduction Workbook, 4th edition. New Harbinger Publications.
Kagan, J.; Reznick, J.S.; Snidman, N. (1988)., Biological Bases of Childhood Shyness. Science 240: 167-171.
Kommentar
Für einen tieferen Einstieg in die Thematik bietet sich folgendes Buch an: Peurifoy, R.: Angst, Panik und Phobien. Ein Selbsthilfeprogramm. Huber, Bern, 1993.
Hilfe bei der Planung und Durchführung von Interventionen, die Ihrem Kind eine bessere Bewältigung von Ängsten und Phobien ermöglichen, finden Sie bei psychologischen Psychotherapeuten in Sozialpädriatrischen Zentren (die Adressen stehen u. a. im Beratungsführer des „Kindernetzwerk", den die meisten Kinderärzte in ihrem Bücherregal haben) oder in Praxen (Adressenvermittlung mit Angabe desBehandlungsziels über den Psychotherapie Informationsdienst pid des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, Telefon +49 228 46699). Eine medikamentöse Behandlung bedarf der Zusammnenarbeit mit einem erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiater in einer Praxis oder einer Ambulanz/ Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (die Adressen sind ebenfalls im Beratungsführer des Kindernetzwerks).
Verfasser: Karen Levine PhD, Robert H. Wharton MD, Sara Miranda LICWS Übersetzung: Horst Romm und Daniel Ansari Zuletzt aktualisiert: März 2018