Unterricht im arithmetischen Denken für ein Kind mit Williams-Beuren-Syndrom
Von Jeanne Dietsch
Ursprünglich erschienen in „Heart to Heart" (1998) Volume 15, Heft 2, Seite 6–7
Aus dem amerikanischen übersetzt von Daniel Ansari und Horst Romm
von diesem Text gibt es eine Druckversion
Ich habe mehrfach Lehrpläne für Verlage wie das National PTA, Beckley Cardy, Delta Education sowie andere entworfen. Nachdem ich mein 9-jähriges Kind mit Williams-Beuren-Syndrome bei verzweifelten Versuchen mit seinen Mathematikhausaufgaben beobachtet hatte, beschloß ich, das Problem selbst anzupacken. Ich sagte mir, daß meine Bemühungen zumindest nicht zu einer Verschlechterung führen könnten. Zu meiner Verwunderung und Befriedigung habe ich erheblichen Erfolg gehabt, den ich gerne mit Ihnen teilen möchte. Allerdings möchte ich anmerken, das meine Bemühungen auf andere Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom übertragbar sein könnten oder auch nicht.
Als ich letzten Spätherbst anfing, mit Ethan zu arbeiten, konnte er eine Menge von 3 Objekten in 80 % der Fälle erkennen. Außerdem konnte er mit einer Stück für Stück Korrespondenz bis 6 zählen (Anm. d. Ü.: Die Stück für Stück Korrespondenz bedeutet, daß jede Zahl mit einem und nur mit einem Gegenstand gepaart sein kann). Er konnte auswendig sagen, daß 1 + 1 = 2 ist, aber er konnte nicht mit Sicherheit die Additionsaufgabe 2 + 1 = 3 lösen.
Ich fing mit Zählen an. Dabei stellte ich etwas fest, was sehr wichtig für Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom im allgemeinen sein könnte. Ethan verfügte nicht über die Grundfähigkeit der Kommutativität (Vertauschbarkeit) von Mengen (Anm. d. Ü.: Kommutativität bedeutet, daß die Summe unabhängig ist von der Anordnung der Elemente). Zum Beispiel konnte er nicht begreifen, daß vier erkannte Objekte weiterhin 4 Objekte blieben, wenn sie räumlich anders angeordnet wurden. Also war es nicht verwunderlich, daß er beim Zählen immer wieder verwirrt und frustriert wurde, denn für ihn konnte die gleiche Menge jedesmal anders sein.
Ich fing an mit vier flachen Holzquadraten. Ich bat Ethan diese zu zählen. Danach verschob ich eines dieser Holzquadrate ein wenig und fragte Ethan wiederholt, wieviel Holzquadrate es nun wären. Ethan wiederholte, daß es insgesamt 4 Holzquadrate seien. Ich wiederholte diese Übung, indem ich mehr und mehr Holzplatten gleichzeitig bewegte, bis ich schließlich alle Platten bewegte. Ethan lernte an einem Abend das Konzept der Kommutativität für die Menge 4. Am darauf folgenden Abend wiederholten wir diese Übung mit anderen Mengen von Blöcken und stellten fest, das Ethan im Verständnis von Mengenkonservation sicher geworden war. Von hier aus konnten wir also weiterarbeiten.
Nun fing ich an, Ethan beizubringen Zahlen mit bestimmten Dominosteinformationen darzustellen (mit Ausnahme von der 3, die ich von ihm als Pyramide darstellen ließ, um ihre Darstellung von der 2 und der 4 abzuheben). Außer dem Zählen von Steinen, bauten wir aus den Steinen bestimmte Formen in der selben Abfolge und veränderten die Form mit jedem Stein, den wir hinzufügten.
Dominosteinformationen um die Zahlen von 1 bis 10 darzustellen
* Ethan benutzte beide Formen, die untere hat er selbst entworfen
Der theoretische Hintergrund dieser Übung ist, daß sich Lernen hierarchisch vollzieht. Zum Beispiel lernen Schachspieler am Anfang einzelne Züge und fangen an, in den Kategorien von Bauern und Läufern zu denken. Erfahrene Schachspieler denken nicht mehr mit einzelnen Zügen, sondern erinnern sich an Zugsequenzen, wie die „Domino Verteidigung" oder die „Katalanische Eröffnung". Durch diese Fähigkeit, sich an Zugsequenzen zu erinnern sowie an mögliche Zugabläufe des Gegners, ist es dem Spieler möglich, auf einem viel höheren Niveau, Spielstrategien zu entwerfen, als dem Anfänger, der von Zug zu Zug denkt. In ähnlicher Weise konnte Ethan – nachdem er die Plackerei des wiederholten Aufzählens von Objekten überwunden hatte, um deren Menge zu bestimmen – jetzt anfangen, Mengen zu addieren und zu subtrahieren.
Ethan hatte wenig Schwierigkeiten, die gleichbleibenden Dominosteinformationen der einzelnen Mengen zu behalten. In den ersten zwei Wochen bewältigte er 1, 2, 3, 4 und 8. Innerhalb eines Monats (wir arbeiteten 4 Abende in der Woche für eine Dauer von jeweils 10–15 Minuten) konnte er alle Zahlen bis 10 mit den einzelnen Dominosteinen bauen. Neun als Quadratzahl war besonders einfach für ihn, genauso wie das Konzept von 3 zum Quadrat (32). Um eine 8 darzustellen, baute er eigenständig zwei 4er Formationen zusammen und lernte außerdem bald, eine 6 zu erkennen, erst als 3 und dann als 3 und 3. Die 7 nannte Ethan die „fast 8". Eine 5 war eine 4 mit einem extra Dominostein, den er vorzugsweise auf die anderen vier Steine legte. Als Ethan selbständig die 10 als eine 9 mit einem extra Dominosteindarstellte, war ich sehr zufrieden.
Als ich selber ein Kind war, benutzte ich eine bestimmte Methode, um mich einfacher an Zahlen zu erinnern, indem ich jeder Zahl eine eigene Persönlichkeit verlieh. Ethan erinnerte sich viel besser an die Zahlen (und auch Buchstaben), nachdem er ihnen individuelle Persönlichkeiten zugeordnet hatte. Ich ermutigte ihn, seine eigenen Beziehung zu verschiedenen Zahlen herzustellen.
Ich wartete nicht, bis Ethan alle Zahlenkonfigurationen beherrschte, sondern fing schon vorher an, ihn im Addieren zu unterrichten. Ich beschloß dies, denn wenn ich alle Übungen mit Ethan in Sequenz machen würde, wäre er bereits 15 Jahre alt, bevor wir den Stoff der 2. Klasse behandelt hätten. Statt dessen lernte er gleichzeitig addieren, während er die Zahlenkonfigurationen bis zehn beherrschen lernte. Während er den Lernprozeß des Erkennens von Dominosteinformationen abschloß, fingen wir mit der Subtraktion an.
Wir begannen jede Sitzung mit dem Malen von großen Zahlen auf Papier. Ethan sollte dann diese Zahlen mit Blöcken bauen und diese miteinander addieren oder voneinander subtrahieren. Inzwischen beherrscht er diese Übung recht gut. Er kann die Blöcke zusammenfügen, um die Antworten in Form von Dominoformationen darzustellen. Als Ethan versuchte, eine 8 mit 9 Steinen darzustellen, versuchte ich ihn zuerst einmal sachte darauf hinzuweisen, indem ich etwas sagte wie: „Da scheinen aber mehr als acht Steine zu sein, oder?". Schließlich lernte er selbständig größere Zahlen zusammenzubauen. Wenn er die Lösung gefunden hatte, half ich ihm diese aufzuschreiben, falls es nötig war.
Für die meisten Zahlen braucht Ethan nach wie vor die manuelle Manipulation als Hilfestellung, um diese addieren und subtrahieren zu können. Doch er kann 2 + 2, 3 + 3 etc. im Kopf addieren und kennt alle diese Zahlenpaare auswendig. Der Unterschied zwischen seiner jetzigen Fähigkeit, Zahlenmengen zu erkennen und zu manipulieren ist im Vergleich mit seinen Fähigkeiten vor 6–8 Monaten, als er noch nicht einmal bis 4 mit Sicherheit zählen konnte, verblüffend. Er hat gelernt zehn Einzelteile gegen ein „Zehnerstück" einzutauschen (Um Zehn darzustellen, benutzen wir eine größere, flache Kachel). Außerdem kann er sehr gut Zahlen erkennen, die aus Zehnern in Kombination mit Einsern bestehen. Zum Beispiel kann er ohne Probleme eine Zehn und sechs Einser als sechzehn erkennen. Wenn er „einzehn" oder „zweizehn" sagt, versuchten wir ihn zu ermutigen die richtige Antwort zu geben, indem wir zum Beispiel sagten: „ein anderes Wort für einzehn ist...". Um ihn auf die richtige Lösung 11 zu bringen, halfen wir ihm auch von 10 aufwärts zu zählen.
Das Verständnis, das ein einzelner Gegenstand mehr als nur eine einzelne Einheit darstellen kann, hat Ethan ermöglicht, das Konzept von Geldmünzen und Scheinen zu verstehen. Wir zählen jetzt manchmal mit 1 und 10 Dollar Banknoten.
Außerdem wird er immer besser im Weiterzählen von einer beliebigen Zahl an. Wenn er akzeptiert und begriffen hat, daß eine bestimmte Kombination zum Beispiel eine sechs darstellt, zeigt er auf eine andere Zahlenkombination und zählt weiter „sieben, acht, neun....". Wenn er dabei in Schwierigkeiten gerät, helfe ich ihm, indem ich sehr schnell und leise die vorgehende Zahlengruppe aufzähle: „1, 2, 3, 4, 5,...". Ich hebe meine Stimme bei der letzten Zahl ‚6' bevor ich mit den anderen Zahlen fortfahre „7, 8, 9" Wir benutzen dieselbe Methode, um ihm beizubringen in 2er, 5er und 10er Schritten zu zählen.
Aber für mich ereignete sich letzte Woche der Höhepunkt in diesem Jahr. Wir redeten gerade darüber, daß er die Großeltern für neun Tage besuchen würde. Von diesen neun Tagen würde ich nur drei Tage bei ihm sein.„Stell es dir im Kopf vor" sage ich zu ihm, „Neun setzt sich zusammen aus 3 Dreierreihen , wenn du nun eine dieser Dreierreihen wegnimmst, wie viele Reihen bleiben dir dann übrig? Kannst du es dir im Kopf vorstellen?"
Daraufhin schaute Ethan mich an und sagte, fast ohne zu zögern, „Ja, jetzt sind es 6."
Begeistert sagte ich darauf zu ihm: „Siehst du, jetzt hast du die Frage ohne die Blöcke beantwortet, genauso wie die Kinder in der Schule."
„Ja", sagte er. „Jetzt ist mein Gehirn repariert."
Wir wissen natürlich, daß Ethans Gehirn nicht „repariert" ist. Außerdem haben wir noch einen langen Weg vor uns, aber ich habe keine Zweifel, das Ethan einfache arithmetische Aufgaben bewältigen kann, so daß er diese Fähigkeiten auf einfache Textaufgaben und bestimmte Lebenssituationen übertragen kann (Sein reges Interesse am sozialen Austausch machen Textaufgaben, die inhaltlich vollgestopft sind mit interessanten Spielzeug und Süßigkeiten, besonders geeignet.)
Wir haben schon ein bißchen mit Multiplikation angefangen, und dies, obwohl wir noch lange nicht mit der Addition und Subtraktionsrechnung abgeschlossen haben. Aber Multiplikationsrechnung ergibt sich fast natürlich aus der Arbeit mit den Quadraten und Dreiecken, die wir aus Kacheln gebaut haben.
Wenn Sie (oder der Lehrer Ihres Kindes) diese Methode ausprobieren, wäre ich sehr erfreut, wenn Sie mir über Ihre Ergebnisse berichten würden.
Die Adresse der Autorin lautet:
Jeanne Dietsch
E-Mail jdietsch@activmedia.com
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Petersborough, NH 03458
Verfasser: Jeanne Dietsch Übersetzung: Daniel Ansari Zuletzt aktualisiert: März 2018